Kammerspiele Mirja Biel inszeniert Goethes "Die Leiden des jungen Werthers"

Bonn · Leidenschaft, die Leiden schafft: Damit kennt der junge Werther sich aus. Von einer Liebe erfüllt, die keine Zukunft hat, versinkt Goethes berühmte Figur in tiefe Melancholie und sieht letztlich nur im Suizid eine Rettung vor dem ihn peinigenden Seelenschmerz.

 Ästhetisierung der Melancholie: Werher (Benjamin Berger) lebt in permanenter romantischer Überspannung.

Ästhetisierung der Melancholie: Werher (Benjamin Berger) lebt in permanenter romantischer Überspannung.

Foto: Thilo Beu

Nun hat das Theater Bonn den Briefroman in den Kammerspielen auf die Bühne gebracht und ihm zugleich eine Frischzellenkur verpasst, die die Verlorenheit und den emotionalen Extremismus dieses unsteten Geistes geschickt in die Moderne überträgt.

In der so genannten Generation X, jener perspektivlosen und desillusionierten Jugend der 90er Jahre, fand Regisseurin Mirja Biel schon vor sechs Jahren in Göttingen eine Entsprechung des Wertherschen Zeitgeists - und in ihrem unfreiwilligen Kronprinz Kurt Cobain eine neue Leitfigur. Zugegeben, diese Parallele wirkt fast schon zu offensichtlich, zu plakativ, hat doch schon kurz nach dem Freitod des Nirvana-Frontmanns der Sender MTV Cobain als den Werther seiner Zeit stilisiert. Doch der Bezug funktioniert, wie die Godesberger Premiere am Donnerstag eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Nicht zuletzt dank einer klugen Textarbeit (unter Einbeziehung von Cobains Tagebüchern) und exzellenter Darsteller.

Biel verzichtet in ihrer Inszenierung auf eine allzu detaillierte Gesellschaftskritik und legt den Fokus auf den persönlichen Absturz ihres cobainisierten Werthers. Diesen versieht Benjamin Berger, der schon in Göttingen mitwirkte, mit Leben und Charisma: In permanenter romantischer Überspannung brennt er für alles, was er anfasst, sich verzehrend nach einem Sinn in seinem Leben, nach etwas, das seine innere Leere zu füllen vermag.

Mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt offenbart er sich in einer Art Videotagebuch oder schwankt betrunken über den Bühnenstreifen vor dem konsequent geschlossenen Eisernen Vorhang - die Welt, so scheint es, ist ihm zu klein. Doch sie genügt, zumindest so lange Werther seine Lotte (Johanna Falckner) hat. Die ist kein Unschuldslamm sondern ein Partyluder, das sich ihrer Weiblichkeit durchaus bewusst ist und mit der Anziehung spielt, die sie auf Werther ausübt. Biel hat es sich offensichtlich nicht verkneifen können, hier Bezüge zu Cobains Ehefrau Courtney Love herzustellen, was leider an ein oder zwei Stellen darin resultiert, dass Lotte in ihrer Metamorphose vom behüteten Mädchen im Tütü hin zur Punk- beziehungsweise Grunge-Braut etwas zu überzeichnet wirkt. Andererseits bringt sie dadurch den nötigen Schwung mit, um Werther aus seiner Lethargie zu reißen - und was Falckner mit nur einem Blick auszusagen vermag, entschädigt ohnehin für vieles.

Die Beziehung des Chaos-Pärchens, das nicht nur bei Klopstock und Büchner, sondern auch bei den Sex Pistols auf einer Wellenlänge liegt, wird irgendwann durch das von Techno-Klängen begleitete Eintreffen von Albert (Robert Höller in Topform) aufgekündigt: Ein Großkotz und Besserwisser, der schon zuvor via Live-Projektion auf den Metall-Vorhang ein kleines Referat über die Neurotransmitter der "Liebesverblödung" gehalten hat, seinen Konkurrenten Werther in einem herrlich absurden Schaukampf KO schlägt und sich in einer Art Stammtischrede als Neoliberaler entpuppt.

Hier bricht Biel mit der von ihr gewählten Form, wechselt vom Persönlichen zum Allgemeinen, versucht es mit kritischen Tönen und einer satirischen Überhöhung des Bürgerlichen - und droht damit zu scheitern, würde sie nicht genau an der richtigen Stelle die Kurve kriegen. Klappt aber. Ohnehin ist dies der Produktion zu Gute zu halten: So überdreht einige Szenen auch sind, kippt das Stück doch zu keinem Zeitpunkt ins Lächerliche. Stattdessen bleibt die existenzielle Angst des verlorenen, verzweifelten, liebeshungrigen Werther/Cobain omnipräsent.

Daher verträgt der "Werther" die Modernisierung auch, die Biel ihm in Bad Godesberg hat zuteil werden lassen.Das Seelenchaos und die Sehnsucht nach einer Zukunft, in der der Freigeist sich entfalten kann, ist längst wieder aktuell - ebenso wie die Ästhetisierung der Melancholie, die Ende des 18. Jahrhunderts begann. "Ich hoffe, dass ich nie so glückselig werde, dass ich langweile", hat Kurt Cobain einmal gesagt. Tut er nicht. Ebenso wenig wie Werther.

Weitere Termine: 21., 22., 26., Dezember 2015; 8., 16., 30. Januar, 16. März und 22. April 2016. Karten in den Bonnticket-Shos der GA-Zweigstellen

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