Literaturnobelpreis Detektiv der Vergangenheit

Der Literaturnobelpreis geht in diesem Jahr an Patrick Modiano. In Frankreich wird die Auszeichnung mit Überraschung aufgenommen.

Nobelpreis-Gewinner Modiano.

Nobelpreis-Gewinner Modiano.

Foto: dpa

Wenn es der Schwedischen Akademie in Stockholm gelungen wäre, den neuen Träger des Nobelpreises für Literatur vorab zu erreichen, um ihm anzukündigen, dass ihre Wahl auf ihn gefallen sei, vielleicht hätte Patrick Modiano dann reagiert wie in jenem Interview vor viereinhalb Jahren mit der Zeitung "Le Monde": verlegen und erstaunt. Auf die Frage, warum die Menschen seine Literatur, aber auch seine Persönlichkeit mögen, suchte er selbst nach einer Erklärung. "Es ist seltsam... Vielleicht ist es wie ein Möbel, das seit langem dasteht.... Die Dauer macht es... Ab einem bestimmten Alter ist man seit langer Zeit da."

Denn das ist der 69-Jährige in Frankreich, wo er zu den bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellern gezählt wird. Den Bekanntheitsgrad eines Michel Houellebecq oder die Medienpräsenz einer Amélie Nothomb hat er hingegen nie erreicht, auch nicht das moralische Gewicht einer intellektuellen Stimme, die sich in aktuelle Debatten einmischt. Als "Detektiv der Vergangenheit" gilt er in seiner Heimat.

Auch dort wurde mit Überraschung aufgenommen, dass die höchste literarische Auszeichnung erneut an einen Franzosen ging, zum 15. Mal insgesamt und nur sechs Jahre, nachdem Jean-Marie Gustave Le Clézio sie erhalten hat. Als Favoriten galten andere, wie der Japaner Haruki Murakami oder der Kenianer Ngugi wa Thiong'o.

Modiano beherrsche die Kunst der Erinnerung, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen habe, begründete die Schwedische Akademie ihre Entscheidung. Der Schriftsteller selbst vergleicht seine Bücher mit den "Motiven eines Teppichs, den man im Halbschlaf gewebt hat". Seine Sprache ist dabei sparsam, lakonisch, klar strukturiert, bestimmte Motive kehren in seinem Werk immer wieder: Es geht um Krieg und Tod, Schuld und Vergessen, die Suche nach dem Ich, der eigenen Herkunft und nach Halt in einer haltlosen Welt "Ich bin nichts", beginnt der Roman "Die Gassen der dunklen Läden". "Nichts als eine klare Silhouette."

Viele Werke spielen in der Nachkriegszeit in Frankreich

Die Werke spielen meist im Frankreich der Nachkriegszeit oder während der Besatzung durch Nazi-Deutschland, die der Autor nicht selbst erlebt, die aber seine Familiengeschichte geprägt hat. Geboren wurde er im Jahr 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris. Seine Mutter war eine flämische Schauspielerin, sein Vater ein jüdischer Kaufmann italienischer Abstammung, der während der Besatzung unter falschem Namen in einem Versteck lebte. Der Versuch, dem Leben seiner Eltern während dieser Zeit und der Gefahr, der sie ausgesetzt waren, nachzuspüren, gilt als Ausgangspunkt unter anderem für den Roman "Dora Bruder". Der Ich-Erzähler versucht darin, mit Hilfe von Zeitungsausschnitten und Polizeiakten das tragische Schicksal eines deportierten jüdischen Mädchens und seiner Familie zu rekonstruieren.

Er sehe das Schreiben nicht als Selbst-Therapie, hat der neue Literatur-Nobelpreisträger erklärt, aber er bediene sich einer gewissen Atmosphäre, die ihn in der Kindheit geprägt habe. Und so schöpft er aus dem eigenen Erleben und einer als obskur empfundenen Vergangenheit für eine literarische Umsetzung. "Es ist", so erklärte er, "als ob ich davon träumte, umzukehren und das, worunter ich gelitten habe, neu und besser zu beginnen. Als könnte ich durch den Spiegel schreiten und die Vergangenheit reparieren."

Worunter er gelitten hat, das war die Lieblosigkeit der Mutter und die Abwesenheit des Vaters, die wechselnde Unterbringung bei den Großeltern und später in Internaten angesichts eines instabilen Familienlebens, die traumatische Erfahrung des Todes seines Bruders Rudy im Kindesalter. Seine Arbeiten von 1967 bis 1982 hat er ihm gewidmet.

Inzwischen hat er rund 30 Bücher veröffentlicht und ist in 36 Sprachen übersetzt

Ohne einen Studienabschluss fand Modiano dank des Schriftstellers Raymond Queneau Eingang in die Welt der Literatur und lebte bald vom Schreiben. 1968 brachte der Verlag Éditions Gallimard seinen ersten Roman "La Place de l'Étoile", heraus, eine Parodie auf den Antisemitismus. Inzwischen hat er rund 30 Bücher veröffentlicht und ist in 36 Sprachen übersetzt, davon viele auch ins Deutsche wie "Unfall in der Nacht" oder "Aus tiefstem Vergessen" (Hanser-Verlag).

Mit seinem dritten Roman "Les Boulevards de ceinture" (auf Deutsch "Außenbezirke") gewann er 1972 den Großen Preis der Académie Française, 1978 erhielt er den renommierten Prix Goncourt für "Rue des boutiques obscures" ("Die Gassen der dunklen Läden").

Die jetzige Krönung des mit acht Millionen Schwedischen Kronen (rund 870 000 Euro) dotierten Nobelpreises dürfte auch ihn selbst überraschen oder mehr noch, wie seine schwedischer Verlegerin Elisabeth Grate vermutet: "Ich glaube, das ist ein Schock für ihn."

Er selbst sagte es bei einer Pressekonferenz gestern am frühen Abend so: "Ich war etwas überrascht, es war total unerwartet. Ich war gerade auf der Straße unterwegs, also ging ich einfach weiter."

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