Carl Nixons Roman "Lucky Newman" Der seltsame Patient

Bonn · Wie schön, wenn ein Autor den Leser an die Hand nimmt, ihn teilhaben lässt an den schriftstellerischen Mühen. Wenn Carl Nixon etwa auf Seite 214 seines wunderbaren Romans "Lucky Newman" aus heiterem Himmel fragt "Was für eine Geschichte ist das?", ein mögliches Szenario skizziert und dann nochmals - rhetorisch - fragt: "Würde diese Geschichte all Ihre Erwartungen erfüllen?"

 Sanfte Annäherung: Die Zeichnung "Paar" von Levke Leiß ziert das Cover von Nixons Roman.

Sanfte Annäherung: Die Zeichnung "Paar" von Levke Leiß ziert das Cover von Nixons Roman.

Foto: Weidle

Der Leser meint: Nein! Also führt Nixon, der das Nein geahnt hatte, die Geschichte in eine andere Richtung weiter. Nixon wird sich noch wiederholt in den Lesefluss einschalten, hier und da denkbare Schlussworte für seine Geschichte ins Spiel bringen. Und doch erzählt er sie schließlich wirklich bis zum Ende. Nicht ohne zu bemerken: "Jedes Ende ist willkürlich. Wie um alles in der Welt soll man auch wissen, wann eine Geschichte wirklich zu Ende ist?"

Nixons "Lucky Newman" ist ein Buch über das Geschichtenerzählen. Dass der neuseeländische Autor das meisterhaft und überaus fesselnd beherrscht, hat er in seinen hervorragenden Romanen "Rocking Horse Road" (2012) und "Settlers Creek" (2013) bewiesen. In "Lucky Newman" gibt es streng genommen drei Geschichten, die kunstvoll verwoben den Leser bei der Stange halten.

Da ist einmal das historische Drama, angesiedelt in den Nachwehen des Ersten Weltkriegs, an dem auch viele Neuseeländer auf an der Seite der Briten kämpften. 16 697 ließen ihr Leben. Vielleicht auch Jacks Vater und Elizabeth Whitmans Ehemann, der im Jahr 1919, als die Handlung des Romans beginnt, noch immer vermisst ist. Elizabeth hat als Krankenschwester in London Schreckliches gesehen, im neuseeländischen Mansfield arbeitet sie an einer Klinik.

Sie wird von einer besorgten Gattin gebeten, ob sie sich denn nicht um Paul Blackwell kümmern könne, ihren sonderbaren Mann, der mit einer schweren Kopfverletzung aus dem Krieg kam, sich an nichts mehr erinnern kann, voller Aggressionen steckt und in einem dunklen Raum vor sich hinvegetiert. Elizabeth gelingt es, Kontakt zu Paul, der sich selbst "Lucky" nennt, aufzubauen. Irgendwann fragt er sie nach ihrem Namen. Nixon schreibt: "Jetzt sieht sie aber auch, wie dick und schwarz seine Wimpern sind, und sie denkt unwillkürlich, so schöne Wimpern seien an einem Mann Verschwendung. Sein verfilzter Bat ist starr wie ein Kaminbesen, und sein langes Haar bildet einen wilden Rahmen um sein Gesicht."

Bald scheint die Beziehung Krankenschwester-Patient nicht mehr rein therapeutischer Natur zu sein. Luckys wachsendes Vertrauen zu Elizabeth trifft bald auf das Misstrauen der Gattin und eines Mediziners, der den scheuen Patienten mit brachialen Methoden "heilen" will. Elizabeth bekommt einen Monat Zeit, Luckys Erinnerung wieder aus dem Dunkel zu erwecken.

Nixon lässt den Leser kaum zu Atem kommen verstärkt die Spannung, indem er eine Geschichte in der Geschichte erzählt. Genauer: Es ist das fantastische Märchen von einem Ballonfahrer und einem schlauen Tiger, das Elizabeth ihrem vierjährigen Jack erzählt. Vielleicht in der Hoffnung, dass er auf diese Weise auf die mögliche Nachricht über den Tod des Vaters vorbereitet wird. Der Mann im Märchen verlässt seine Familie in einem Heißluftballon, besteht fantastische Abenteuer. Nixon lässt Elizabeth mit ihrer Ballonfahrergeschichte an Jacks viertem Geburtstag eher konventionell beginnen und dann - am Abend, nachdem sie Lucky kennengelernt hat - die Story zu einem wunderbar komplexen und farbenfreudigen Strauß aufblühen. Wie ein versierter Märchenerzähler kredenzt Nixon seinem Leser nur Häppchen, lässt ihn ansonsten zappeln bis zur nächsten Folge.

Die dritte Geschichte in "Lucky Newman" ist kein historischer Plot, auch kein Märchen, sondern eine Geschichte übers Schreiben. Denn Nixon berichtet, wie er zu dem Stoff kam, dass im Mai 2008 ein Mann zu ihm Kontakt aufnahm, um ihm die Geschichte seiner Eltern zu erzählen. Er gab ihm auch Dokumente, Fotografien und Briefe. Nixon biss an (und der Leser, der diese Vorgeschichte für bare Münze zu nehmen gewillt ist, tut das auch). Der Name der Eltern sei hier nicht verraten, um das so spannende wie anrührende Ende nicht vorwegzunehmen.

Nixon erscheint als detailfreudiger Rechercheur, der sich in die Kriegstechnik ebenso hineingearbeitet hat wie in Medizinisches, etwa die seltsame Verletzung Luckys im Schützengraben in Frankreich. Dass er auch hier locker historisches Detailwissen mit einem angenehmen erzählerischen Duktus verknüpft und dabei nie den Kontakt zu seinem Leser verliert, lässt den Roman über die Liebe im Schatten des Krieges zu einem wahren Lesevergnügen werden.

Carl Nixon: Lucky Newman. Aus dem Englischen von Stefan Weidle und Ruth Keen. Weidle Verlag, 277 S., 23 Euro

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