"Mülheim - Texas" im Kino Den Kopf voll Blödsinn

Der Filmanfang ist schon mal ein echter Griff ins Klo, Helge-style: Wie ein Tier zum Sprung bereit, jede Faser in Alarmbereitschaft, sitzt der Entertainer im unnachgiebigen Fokus der Kamera. Eines will man in dem Moment nicht sein: Interviewer.

 Helge Schneider im Film "Mülheim - Texas".

Helge Schneider im Film "Mülheim - Texas".

Foto: dpa

Und prompt lässt Helge Schneider die Dokumentarfilmerin Andrea Roggon mit ihrer Auftaktfrage nach Kunst und Freiheit scheitern. "Freiheit", sagt er, "ist nichts, was man hat, sondern was man sich nehmen muss" - und stapft einfach so vom Set: "Tschüss!" Zurück bleiben: ein leerer Ledersessel und peinlich viel Stille.

Roggons Projekt "Mülheim - Texas. Helge Schneider Hier und Dort" ist gewagt: Einen dokumentarischen Roadmovie über Helge Schneider will sie vorlegen, womöglich die wahrste Wahrheit über jenen Entertainer, der durch absurde Schauspiel-Einlagen oder genialen Jazz, ganz sicher aber nicht durch strukturierte Ernsthaftigkeit, kommuniziert. Dass er sich auch in diesen 88 Minuten nicht an irgendwelche Regeln oder Erwartungen anpassen und sein Innenleben präsentieren wird, ist schon in der Eingangsszene klar. Und das macht es spannend: Wie also fängt die junge Filmabsolventin ein 61-jähriges Multitalent ein, das sich hinter undurchsichtige Schichten von Quatsch und Klamauk flüchtet?

Roggon versucht es gar nicht erst. Sie lässt den Selbstdarsteller Schneider über lange Strecken so sein, wie er sich gefällt: im himmelblauen Anzug mit Schlaghose und Cowboyhut, auf den Lippen ein paar absolut bekloppte Liedzeilen. Oder am Strand in knallroter Badehose¸ senfgelbem Glanz-Blouson und einer geträllerten Variante der Mondscheinsonate. Sie macht sich mit ihm auf den Weg durch seinen Alltag - vom Studio im sonnigen Süden über Bühnenshows hin in seine Heimatstadt Mülheim an der Ruhr.

Was den neugierigen Betrachter mit all seinen Fragen erst frustriert, erscheint zunehmend als einzig erfolgreicher Umgang mit Schneiders kapriziöser Ego-Show: Nur indem Roggon sich völlig zurücknimmt, gelingt ihr eine erstaunliche Entdeckungsreise durch Schneiders Welt, in der das Spießige immer neben dem Genialen steht - so eng, dass man nicht umhin kann, den Entertainer für seinen Ausbruch aus der öden Fadlosigkeit zu bewundern.

Da sind die Mülheimer, Seniorinnen in eierschalenfarbenen Steppjacken, Graugesichter, die "ihrem" Helge die Hand drücken wollen - und auf der anderen Seite steht er, im exaltierten Leder-Trenchcoat vor trister Innenstadt-Kulisse. Er lässt diese Bewunderung wie eine Eisdusche über sich ergehen, rückt den Starrummel auch gleich zurecht. Erzählt, wie er in der Schule wegen seiner roten Haare gemobbt wurde, dass er schon da zum Außenseiter wurde: "Ich habe das Außenseitersein dann kultiviert."

Als Jugendlicher wollte er am liebsten raus, nach New York, Jazz-Musiker werden: "Aber ich hab' mich natürlich nicht getraut und Geld war auch keines da." Als er für die Kamera nachts im Regen an den geduckten Ruhrgebietshäusern entlang fährt und kichernd irgendwas mit fitze, fatze, Motherfucker intoniert, gönnt man ihm - dem mittlerweile geschätzten Musiker - jenen späten Moment des Triumphes. Er, der von sich selbst sagt, gegen den Irrsinn der Realität zu rebellieren, hat sich eingerichtet in diesem piefigen Mülheim. Natürlich so wie niemand sonst. Wenn er nicht gerade seine ollen Jeans-Overalls im Treppenhaus lüftet, eine Runde Kajak auf der Ruhr fährt oder Klavier und Kuckucksuhr mit Straußenfedern abstaubt, gibt er sich durchaus fürsorglich: "Habta Hunger? Pommes? Erikas Braterei is gleich umme Ecke."

Neben dieser Prise Persönlichem gewährt Schneider einen winzigen Blick auf sein berufliches Selbstverständnis, erzählt, wie er schon als Kind "Oppa" sein wollte: "Weil ich fand Oppas so lustig." Und wo's ums Lustige geht, wird Helge Schneider ernst. "Ich breche die Regeln", sagt er, "aber nur, um zurückzukommen. Denn sonst kann ich nicht mehr ausbrechen. Sonst bin ich nicht mehr frei, sondern allein." Mehr Einblick, etwa ins illustre Familienleben: unerwünscht.

Helge Schneider muss nicht mehr preisgeben, denn Andrea Roggon versteht es allein durch Bildschnitt und Retrospektive, nah an diesen Ausnahmemenschen heran zu kommen. Da sind seine musikalisch virtuosen Bühnenauftritte - vor Publikum, dem das leider egal ist, denn es ist nur gekommen, um über Blödeleien zu lachen. Da ist der Blick zurück ins Archiv, das seine Anfänge als Rampensau zeigt - und dann ins Heute schwenkt, wie er auf diesem Ledersessel sitzt, lange Sekunden die Kamera sich auf sein Gesicht heftet - die roten Haare mittlerweile ergraut, vergnügte Falten, ein eleganter Mantel, zugeknöpft, unsicher, gleichzeitig in sich ruhend. Ein Bild des Menschen, der er immer werden wollte: ein belustigter "Oppa", den Kopf voll Blödsinn, den er zwischen sich und die Welt stellt. "Geheimnisse sind wichtig", sagt er. Die Regisseurin Andrea Roggon lässt sie ihm.

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