"Vor den Hunden" im Theater im Ballsaal Aberwitzige Blicke in Vergangenheit und Gegenwart

BONN · Zwei clowneske Figuren, die an Harpo und Groucho Marx erinnern, schleppen große Pappkisten über die Bühne. "Freiheit" und "Demokratie" steht darauf geschrieben, aber das Gewicht bleibt unbestimmt.

 Absurd böse, intelligent, manchmal albern: Szene aus "Vor den Hunden".

Absurd böse, intelligent, manchmal albern: Szene aus "Vor den Hunden".

Foto: René Reinhardt

Es ist eine der komischsten Szenen aus dem Konvolut von neun Stücken, die der Regisseur Frank Heuel zu dem vierstündigen Abend "Vor den Hunden" verdichtet hat. "Wo ist die Front?", haben sich Autoren aus neun europäischen Ländern anlässlich des Leipziger "Völkerschlacht-Jubiläums" gefragt und die heutigen Schlachtfelder untersucht.

Die Inszenierung des Fringe-Ensembles im Ballsaal baut daraus ein fragmentiertes dramatisches Universum mit aberwitzigen Blicken in Vergangenheit und Gegenwart und raffinierten Motiv-Verknüpfungen. Die titelgebenden Hunde kläffen und beißen. Einer taucht im anfänglichen "Todesstreifen" auf. Der in einer verwüsteten Stadt von der Frau des ermordeten Sargschreiners zurückgelassene hungrige Rasseköter Gilbrecht frisst genüsslich einen Menschenfuß; später wird berichtet von einem humpelnden Mann, der seinen Fuß im Bürgerkrieg verlor.

Und die geflohene Frau wird schmerzhaft zeigen, wie ihre körperliche Existenz nur noch durch Stützstrümpfe am ganzen Leib zusammengehalten wird (Text: die Französin Marie Nimier). Ansonsten dienen Umzugskartons als Masken und Spielmaterial im hundsgemeinen Rundumblick auf die Kampfzonen zwischen moralisch verwahrloster Wirtschaftsmacht und zweifelhaftem Widerstand.

In der Ausstattung von Annika Ley und Elisabeth Schiller-Witzmann markieren bewegliche Holzpalisaden vor einem Hintergrund aus militärischen Tarnnetzen die wechselnden Schauplätze. Zwischen den Zuschauerreihen führt ein Gang bis ins Foyer, aus dem die Schauspieler wie in eine antike Arena rennen.

Mit wildem Geschrei und animalisch naiver Nacktheit mit blau angestrichenen Brüsten tut das Laila Nielsen als Revoluzzer-Girl "im Bett", wo ihr schläfriger Freund (David Jeker) eher seine Ruhe sucht. Viel bemalte Haut unter einem reizenden Pelzjäckchen zeigt auch Justine Hauer als Tatjana, die ein Gedenkkreuz für die im großen vaterländischen Krieg Gefallenen zersägt hat und in einem grotesken Verhör mit einem kleinen Gerichtsbeamten (David Fischer) eine metaphorische Linie zieht von der 200 Jahre zurückliegenden Völkerschlacht zu Pussy Riot und Petrus, auf den Christus seine Kirche baute. Der Text "Der Stein" stammt von dem russischen Dramatiker Alexander Molchanow und ist einer der verrücktesten in dem ganzen Stimmengewirr.

Auf einem weißen Flauschteppich versinkt ein Kreativdirektor zwischen Kokswolken ins Koma und wird zum lukrativen Werbeträger einer Kampagne zur Sterbehilfe. Der Lette Ivo Briedis hat diesen mordslustigen Kommentar zum Geschäft mit dem Tod beigesteuert. In rosarotem Nebel fantasiert Bettina Marugg vom Heiligen und den letzten Minuten einer bombenseligen Märtyrerin (Text von der Italienerin Magdalena Barile).

Ein wenig zäh ist vor der Pause die angestrengte Theatralisierung des norwegischen Massenmörders Breivik im Puppenhaus (Text von dem Dänen Jens-Martin Eriksen). Grandios dagegen ist der Schlusschor, in dem Bachs "Matthäuspassion" aus dem Reich des kinderfressenden Medienhelden Saturn auf den Hungerstreik von um ihren Lohn betrogene Textilarbeiterinnen trifft (Text von dem Kroaten Göran Fercec). Manuel Klein singt den Evangelisten und dirigiert die ganze Schar zur Musik von Gregor Schwellenbach.

Zum fabelhaften zehnköpfigen Ensemble gehören noch Philine Bührer aus der einstigen Schauspieltruppe des Bonner Stadttheaters, der exzellente Ismail Deniz, der in jeder Rolle brillante Andreas Meidinger und der nicht immer sprachlich ganz verständliche Pole Maciek Brzoska. Über allem schwebt in zehntausend Metern Höhe ein Autopilot (Text: Lothar Kittstein) und sieht weit unten eine Hochzeitsgesellschaft in roten Flammen.

Das schöne grüne Land würde er gern mal als Tourist erkunden und die bleichen Knochen der Opfer unter der schwarzen Erde vergessen. Aber die Hunde wühlen und wüten gespenstisch rum. Absurd böse, schamlos irre, manchmal bloß billig albern, aber intelligenter als das teure selbstverliebte Spaßtheater, mit der das Bonner Stadttheater auf die Generation U 30 spekuliert.

Weitere Vorstellungen noch am 10., 11. und 12. April, jeweils 19 Uhr. Karten unter der Rufnummer 0228/797901 oder im Internet unter www.theater-im-ballsaal.de

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