"ÜberMut" in St. Helena Gespräch mit Wolfgang Thierse eröffnet Novemberfestival

BONN · Mit einem begnadeten Geschichtenerzähler wurde am Freitagabend das diesjährige Novemberfestival "ÜberMut" eingeläutet.

 "Mit dem Mut in dunklen Zeiten ist das so eine Sache": Wolfgang Thierse in St. Helena.

"Mit dem Mut in dunklen Zeiten ist das so eine Sache": Wolfgang Thierse in St. Helena.

Foto: Barbara Frommann

Denn der geladene Bundestagspräsident a. D. Wolfgang Thierse entpuppte sich in der Kreuzung St. Helena als einer der authentischsten Augenzeugen der unblutigen Revolution von 1989, den Bonn bislang sah. Aus dem Handgelenk schüttelte der 71-jährige SPD-Politiker plastisch erzählte Mosaiksteinchen des dunklen DDR-Alltags, so dass die beiden Moderatoren Johannes Sabel und Axel von Dobbeler mit ihrer biografiebedingten Wessi-Sicht aus dem Staunen nicht mehr herauskamen.

Wie das denn gegangen sei, in der DDR Mut zu zeigen? "Da erzähle ich Ihnen am besten eine Geschichte", hob Wolfgang Thierse an. Und schon steckte das gebannte Publikum mitten im ebenso grauen wie für einen freiheitsliebenden Menschen oft auch grauenvollen DDR-Alltag drin.

Schon in der Schule habe er beim Bau der Mauer gewusst: "Jetzt sind wir eingesperrt", berichtete Thierse. Und dann habe der Lehrer das Aufsatzthema "Würdet ihr auf einen Deutschen schießen?" gestellt. Thierses von den Kommunisten gedemütigter Juristenvater habe den Sohn getröstet: "Der will nicht deine Meinung, der will dich unterwerfen". So hieß von nun an die Lektion. 1968 beim Einmarsch der Ostblocktruppen ins aufmüpfige Prag hätten die Akademiekollegen ihn beschworen, um ihrer Willen den Mund zu halten.

"Und das macht man dann - mit Beschämung." Er habe mit offenen Augen gesehen, wie das Unrechtsregime in nichts so erfolgreich gewesen sei wie in der Entkirchlichung der Gesellschaft. "Da musst du einen Modus Vivendi finden, mit dem du überlebst: mit Kompromissen."

1976 bei der Ausbürgerung des mutigen Wolf Biermann, da habe er sich dann geweigert, am Arbeitsplatz entsprechende Jubelbriefe zu sammeln. Der Rauswurf war die Folge, erzählte Thierse. "Und ab da haben sie mich behandelt wie einen Staatsfeind." Der dann 1989 mit dem "Mut der Verzweiflung" endlich mit auf die Straße ging. "Ich hätte mich sonst vor mir selbst und vor meinen Kindern geschämt."

Tja, das mit dem Mut in dunklen Zeiten, das sei so eine Sache, resümierte Thierse ehrlich. Erst als klar war, dass erstmals "kein Befehl aus Moskau kommen" würde, da hätten sie, die Bürgerrechtler, die Angst verloren. "Denn schon allein die Angst ist die halbe Macht einer Diktatur."

i Das Novemberfestival in der Bornheimer Straße130 geht heute um 18 Uhr weiter mit dem Theater "ÜberMut" des Fringe-Ensembles und Kai von Westermans Dokumentarfilm "Wie Erich seine Arbeit verlor".

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