Diskussion über Kindesmissbrauch "Wir waren Menschenmaterial"

BONN · Viel Mut gehört wohl dazu, sich in aller Öffentlichkeit dazu zu bekennen, als Kind und Jugendlicher von einer Vertrauensperson, von seinem Lehrer, missbraucht worden zu sein. "Ich habe das viele Jahre nicht gekonnt, weil ich überleben wollte", gestand Winfried Ponsens vom Verein Missbrauchsopfer Collegium Josephinum (Cojobo) am Dienstagabend bei einer gut besuchten Podiumsdiskussion in Endenich.

Im Rex-Kino stand der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in zwei Bonner katholischen Schulen im Mittelpunkt eines Themenabends, zu dem der Kölner Filmverleih Mindjazz-Pictures eingeladen hatte.

"Das ist eine Premiere, dass sich Vertreter der Schulen und Betroffene gemeinsam auf ein Podium setzen und darüber öffentlich reden wollen", sagte Moderatorin Ebba Hagenberg-Miliu. Ihre Gesprächspartner waren Pater Johannes Siebner, Rektor des Aloisiuskollegs (Ako), Jürgen Repschläger, Sprecher der Ako-Opfergruppe Eckiger Tisch, Peter Billig, Schulleiter des Collegium Josephinum (Cojobo) sowie Winfried Ponsens und Conny Schulte von der Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt.

Als Einstieg war zunächst der Film "Meine keine Familie" des Schweizer Regisseurs Paul-Julien Robert zu sehen, der 2012 bei der Viennale den Wiener Filmpreis in der Kategorie "Bester Dokumentarfilm" erhalten hat und der sich mit dem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen aus sehr persönlicher Sicht des Regisseurs als einstiger Betroffener auseinandersetzt.

Ebenso offen wie Ponsens beschrieb auch Jürgen Repschläger, heute Mitglied der Linksfraktion im Stadtrat, seine Erlebnisse am Ako. Denen er sich auch deshalb ausgesetzt sah, weil er nach Ansicht jenes Paters und Internatsleiters Ludger Stüper kein Kind "aus gutem Hause" gewesen sei. "Wir waren als Schüler für die Patres nur Menschenmaterial", sagte Repschläger. Und klagte: "Warum hat das damals niemand bemerkt?"

Der mittlerweile pensionierte Schulleiter Ponsens sah "erschreckende Parallelen" zu dem Film: Auch er sah sich als Jugendlicher am Cojobo zur Selbstaufgabe getrieben. "Die einzige Möglichkeit zur Selbstwahrnehmung bestand darin, sich als Sexsklave eines Priesters zur Verfügung zu stellen." Und gestand, er habe danach diese Erlebnisse verdrängen wollen, er habe "als junger Mann keine Lust mehr gehabt, sich mit dieser Scheiße auseinanderzusetzen, ich wollte einfach nur noch glücklich sein."

Sichtlich berührt von Ponsens Schilderung meldete sich aus dem Publikum eine Mutter eines ebenfalls von Missbrauch Betroffenen. "Mich hat in dem Film vor allem das Schweigen der Eltern fertig gemacht", sagte sie. Es sei das System der Angst gewesen, das an der Schule ihres Sohnes aufgebaut worden sei und das den Missbrauch erst möglich machte. Eindringlich appelliert sie vor allem an Siebner: "Ich fordere Aufklärung und Reue."

Ako-Leiter Siebner zeigte sich "berührt", dass es so lange dauere, bis "man die eigene Geschichte erzählen könne." Er machte deutlich, hinter der persönlichen Verantwortung des einzelnen Täters stehe oftmals auch ein System, das dessen Handeln zulasse. "Da wo Macht ist, muss man sehr wachsam sein," sagte er. Das "Vermögen zur Wahrhaftigkeit" sei der erste Schritt zur Prävention.

Cojobo-Direktor Peter Billig räumte ein, in der Vergangenheit sei hinsichtlich der Aufarbeitung der Fälle "vielleicht einiges schief gelaufen". Heute meine er, "es wäre ein weiteres Verbrechen, wenn man den Opfern nicht glauben würde".

Schulte beklagte, dass Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ein breites gesellschaftliches Problem sei, doch zu wenig Lösungsansätze geboten würden. Und dass etwa am Ako bisher niemand zur Verantwortung gezogen worden sei. So etwa der der Mitwisserschaft verdächtigte ehemalige Ako-Rektor Pater Theo Schneider, der heute in hoher Ordensposition in Göttingen arbeite.

Dieser in Bonn erste öffentliche runde Tisch zum Missbrauch an zwei Bonner Gymnasien habe sich nach langer kontroverser Diskussion als noch sehr kantig erwiesen, resümierte Hagenberg-Miliu schließlich. Es zeige sich, dass vor dem Hintergrund der aktuellen Pädophilie-Debatte der Grünen an beiden Kollegs noch viel Aufarbeitung betrieben und für die Betroffenen gesorgt werden müsse.

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