Bonn im Roman Wolfgang Koeppen: "Das Treibhaus"

BONN · Wer keine Depressionen hat, der kann sich hier welche holen. Wolfgang Koeppen (1906-1996) beschreibt in seinem knapp 200 Seiten dicken Roman in fünf Akten zwei Tage im Leben des Bundestagsabgeordneten Keetenheuve in Bonn.

 Im Bonner Bundestag: Christian Doermer als Abgeordneter Keetenheuve in Peter Goedels WDR-Verfilmung von Wolfgang Koeppens "Das Treibhaus" (1985).

Im Bonner Bundestag: Christian Doermer als Abgeordneter Keetenheuve in Peter Goedels WDR-Verfilmung von Wolfgang Koeppens "Das Treibhaus" (1985).

Foto: obs

Eine wichtige Abstimmung über die Wiederbewaffnung steht bevor und Keetenheuve irrt durch die unfertige und halb zerstörte provisorische Hauptstadt auf der Suche nach Orientierung. Politischer aber auch ganz persönlicher Orientierung, denn sein Koordinatensystem ist wie das des gesamten Landes aus den Fugen.

Auf seinen Wegen zwischen Bahnhof und Bundeshaus, zwischen Wohnung und Weinstuben, Kaschemmen und Kontor begegnet Keetenheuve dem Personal der neuen Republik. Restauration sei das Thema, heißt es im Roman und doch ist klar, dass nichts mehr so ist, wie es vor 1945 oder vor 1933 war. Die politischen Glaubensgemeinschaften der 20er Jahre sind zerfallen, Sozial- und Christdemokraten haben sich mangels Alternativen auf die parlamentarische Demokratie als Spielregel geeinigt.

Aber auch die geschlagenen Nationalisten und Nazis sind noch unterwegs und versuchen, Boden zu gewinnen. Keetenheuve leidet, weil es im Parlament um Mehrheiten geht und nicht um letzte Wahrheiten. Von denen hat er während des selbstgewählten Exils schon die meisten abgelegt. Nie wieder Krieg, heißt sein letztes Credo und auch das soll jetzt fallen. Keetenheuve ist desillusioniert, aber kein Zyniker, er macht mit, aber er glaubt nicht an das, was er da tut.

So wird er zum Beobachter der Menschen in der Stadt und all der Dinge, die sie tun, um ihrem Leben Sinn zu geben; Sinn, den es in Keetenheuves Weltbild nicht mehr gibt: Die meisten haben sich ins Private zurückgezogen und ins Geschäft, Geldverdienen ist wichtig und der Konsum. Die Menschen sind dick und sie essen zu viel. Man amüsiert sich verhalten im Weinlokal und geht früh schlafen. Bonn und seine Republik sind abweisend und kalt, die Straßen sind nachts leer und tags herrscht emsige Betriebsamkeit, denn der Wiederaufbau fordert alle Kraft. Die Bonner Welt ist eng und muffig, intellektuell dürftig und geistig beschränkt. Amüsement gibt es in Kellerspelunken am Bahnhof und in den Trümmern am Rhein.

Keetenheuves Welt ist voller Intrigen und Ränke. Das politische Personal, die Journalisten und Agenten, die Lobbyisten und Interessenvertreter kennen sich aus alten Zeiten, aus Redaktionsstuben, aus Lagern oder von der Front. Die Geheimdienstleute sind wieder aktiv und ziehen ihre Drähte, die alten Diplomaten spannen ihr Netz, und auch die Generäle wollen wieder mitmachen. Bonn ist nicht Berlin und alle verachten sie dieses Provinznest und seine biedere Selbstzufriedenheit.

Holzschnittartigen Schilderungen

Aber sie haben alle keine Wahl. Wer überleben will, muss mitmachen, muss die alten Konflikte überwinden, darf nicht mehr an Lager, Mord und Gewalt denken, muss vergessen. Bonn ist das Treibhaus, in dem sie alle zusammenkommen, in dem das neue Land, die neue Gesellschaft unter der schwülen Rheinhitze und der Führung eines alten schlauen Fuchses wächst und gedeiht, ohne dass schon zu erkennen wäre, wo das endet und ob es nicht ein unkontrollierbares Wuchern wird.

Hat Keetenheuve dem Leser heute noch etwas zu sagen? Wer etwas über Geist und Ungeist der frühen Bundesrepublik erfahren will, über die Frage, wie denn aus den Trümmern der Weimarer Republik und des Dritten Reiches ein neues Land entstehen konnte, der muss Wolfgang Koeppen lesen. Sein Bild ist beklemmend, aber weit entfernt von holzschnittartigen Schilderungen, die einige seiner Zeitgenossen ablieferten. Koeppen schätzt es, die Untiefen in menschlichen Verhaltensweisen herauszuarbeiten. Koeppens Keetenheuve stellt alle Fragen, die man sich Anfang der 50er Jahre rund um Sinn und Unsinn von Demokratie stellte. Er thematisiert die Verachtung, die Intellektuelle noch heute pflegen, wenn sie sich dem Votum einer Mehrheit beugen sollen, obwohl sie doch über höhere Einsichten zu verfügen meinen.

Hier gibt es einen kleinen Schatz zu heben, denn was heute Pegida und andere Demokratieverächter von sich geben, hat Deutschland 1953 schon einmal bewegt und diskutiert. Keetenheuve glaubt am Ende an nichts mehr, noch nicht einmal an die Liebe, der er gleichwohl in der Bonner Nacht am Rhein begegnet. Dass er sich deswegen auf der Beueler Brücke das Leben nimmt - heute versteht das vermutlich niemand mehr. Die Zeiten sind nüchterner geworden, die Erwartungen an den Sinn der Politik und des gesellschaftlichen Daseins realistischer. Dass es da ein Defizit gibt, das Demokratie nicht füllt, betrifft uns allerdings bis heute.

Sprachcollagen aus klassischen Zitaten

Außerdem ist Koeppen ein großartiger Schriftsteller. Er ist ein Sprachartist, fügt Bruchstücke zusammen, baut Sprachcollagen aus klassischen Zitaten, historischen Sätzen, Anspielungen, Opernfiguren, Werbesprüchen, Schaufensterdekorationen, Schlagermelodien, Filmdialogen, Radiodurchsagen oder Wochenschauschnipseln. Er kombiniert das mit Reportage-Elementen und dem inneren Monolog seines Antihelden, der gerne in Schlagzeilen denkt, die nie erscheinen werden.

Er ist ein Zeitungsmann geblieben und in der Lage, sich in jeder Rolle zu sehen - letztlich findet er aber keine mehr, die zu ihm passt. Die Welt ist voller Möglichkeiten an denen die Menschen scheitern. 62 Jahre alte kluge Gedanken zu einem aktuellen Thema. Zur Wiederentdeckung einer untergegangenen Welt und ihrer Antworten auf existenzielle Fragen sehr empfohlen.

Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus, Roman, Suhrkamp, 213 S., 14,99 Euro

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