Gründe, weshalb Mütter ihre Babys töten "Schuld wird sie ihr Leben lang begleiten"

BONN · Paul, hilflos und stark unterkühlt in einem Rucksack ausgesetzt, jetzt der entsetzliche Fund von zwei Babyleichen in einem Gefrierfach: Fassungslosigkeit, Entsetzen, Unverständnis, Vorverurteilung.

Die Reaktion der Öffentlichkeit auf solche Verbrechen zielt fast immer in die gleiche Richtung. Was bringt Frauen dazu ihre Kinder zu töten? Weshalb waren die Mütter so verzweifelt? Wieso hat das Umfeld nichts von der sich anbahnenden Tragödie bemerkt?

"Es gibt für solche Taten keine Entschuldigungen, allerdings wissenschaftliche Erklärungen", sagte Professor Thomas Schläpfer, stellvertretender Direktor der Bonner Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, gestern im Gespräch mit dem General-Anzeiger. Oftmals liege solch einer Tat eine schwere Psychose oder eine Depression zugrunde.

"Fast immer ist der Babymord der allerletzte Ausweg, dem eine große Überforderung vorausgeht." Obwohl das Kind meist nur der Auslöser aber nicht die Ursache ist, glaube die Mutter, dass ihre Probleme allein mit dem Baby zusammenhängen. In ihren Augen lasse sich ihre Situation nur lösen, wenn sie sich von dem Kind befreie. Getreu dem Motto "Was nicht sein darf, das ist nicht", verdränge sie ihre Schwangerschaft erfolgreich über Monate hinweg.

Durch diese krankhafte Abwehr und eine verzerrte Wahrnehmung existiere die Schwangerschaft im Bewusstsein der Frau überhaupt nicht und damit letztendlich auch nicht das Kind. Aber auch überfürsorgliche und besonders ehrgeizige Mütter sehen laut Schläpfer in einer Tötung den einzigen Ausweg. "Wenn sie ihren eigenen hohen Anforderungen nicht gerecht werden können, dann wollen sie ihrem Kind ein Leben in der Mittelmäßigkeit ersparen und lassen es lieber sterben." Nicht vergessen dürfe man allerdings auch diejenigen, die glauben, dass sie durch ein Kind ihren Partner verlieren.

Für Schläpfer sind solche Taten immer auch ein Zeichen von Armut - und zwar von Armut in der Kommunikation. "Wenn man nicht viel oder nur oberflächlich miteinander redet, dann bemerkt man auch nicht, in welcher Situation oder Notlage meine Partnerin, meine Tochter oder meine Kollegin momentan ist." Frauen in solchen Lebenskrisen könne man nur helfen, wenn man ihnen zeige, dass man sich für sie und ihr Leben interessiert. Dabei gebe es durchaus Alarmsignale, die gefährdete Mütter aussenden. Wenn sich Frauen immer mehr zurückziehen, oftmals traurig wirken und eindeutige körperliche Veränderungen ignorieren, dann kann das durchaus ein Hinweis auf eine Psychose sein, so der Oberarzt.

Selbst wenn sich eine Täterin irgendwann vor Gericht verantworten muss, "ihre Schuld wird sie ihr Leben lang begleiten". Diese Frauen bräuchten über lange Zeit eine intensive Psychotherapie. "Dafür müssen sie erst einmal realisieren, was sie getan haben. Erst wenn eine solche Behandlung erfolgreich ist, werden sie in der Lage sein, Reue zu empfinden", sagte Schläpfer. Bis dahin liege allerdings ein langer, schwerer Weg vor ihnen.

Auswege zeigt einen Ausweg

In Köln, Aachen und im Ruhrgebiet gibt es Babyklappen, in Bonn setzt man auf das Projekt Auswege. Dieses Hilfsangebot für schwangere Frauen in Notsituationen wurde im März 2004 gemeinsam von Hebammen, Beratungsstellen, Mutter-Kind-Einrichtungen sowie Krankenhäusern ins Leben gerufen. Unter der Notrufnummer 0228/90 900 999 können sich Schwangere anonym beraten lassen, ihre Sorgen und Ängste ausdrücken.

Dadurch soll den betroffenen Frauen geholfen werden, in Ruhe und fachlich kompetent begleitet eine sinnvolle Entscheidung für ihr eigenes und das Leben ihres Kindes zu treffen. Das Projekt Auswege will Kurzschlusshandlungen verhindern, wie z.B. ohne medizinische Hilfe oder ohne die Unterstützung einer Hebamme zu entbinden, oder das Kind nach der Geburt auszusetzen. Die Vernetzung der beteiligten Dienste, die durch das Amt für Kinder, Jugend und Familie koordiniert wird, ermöglicht den Hilfe suchenden Frauen umfassende Unterstützung.

Seit 2004 nutzten in Bonn 15 Frauen dieses Angebot: Zwei entbanden anonym, sieben gaben ihre Kinder zur Adoption frei, sechs entschieden sich für ein gemeinsames Leben. Am 1. Mai 2014 trat zudem das Gesetz zur vertraulichen Geburt in Kraft.

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