Made in Beuel Zurück in die Zukunft

BONN · Wie die Bonner Stadtwerke mit ihrer bahnbrechenden Idee einer eigenen Bahn-Manufaktur den traditionsreichen Industriestandort rechts des Rheins wiederbeleben.

Die Älteren unter uns erinnern sich noch: Die Waschmaschine hielt als solide deutsche Wertarbeit gut und gerne ein Vierteljahrhundert, durchgelaufene Schuhe brachte man zum Schuster, der Fernsehtechniker schraubte so lange im Inneren des streikenden Flimmerkastens herum, bis wir am Abend wieder Robert Lembkes heiteres Beruferaten gucken konnten, in der Autowerkstatt wurde die ramponierte Stoßstange des Käfers gerichtet und der eingedrückte Kotflügel der Ente mit einem Gummihammer ausgebeult.

Heute hingegen, im Zeitalter der Globalisierung, der Plastikautos, der Haushaltsgeräte aus Fernost und der Fernseher vom Discounter sind wir endgültig zur Wegwerfgesellschaft mutiert. Eine Reparatur rentiert sich in der Regel nicht. So ist das.

Ist das so? An der Neustraße südlich des Beueler Bahnhofs beweist derzeit eine Truppe von hoch motivierten Handwerkern der Bonner Stadtwerke das genaue Gegenteil - an jenem historischen Ort, an dem schon vor 110 Jahren die erste elektrifizierte Straßenbahn gehegt und gepflegt wurde, damit sie über die 1898 fertig gestellte Rheinbrücke pendeln konnte. Die zehn Männer, jeder ein Könner in seinem Fach, verwandeln in Handarbeit 25 uralte Stadtbahnzüge in hochmoderne Neufahrzeuge - und sparen damit dem Konzern und dem Steuerzahler 47 Millionen Euro.

Was zunächst als abenteuerliche, geradezu wahnwitzige Idee anmutete, entwickelt sich mit großen Schritten zu einem "bundesweit bestaunten Pilotprojekt, das noch Einfluss auf unsere gesamte Unternehmenskultur nehmen wird", versichert Geschäftsführer Heinz Jürgen Reining. "Das Projekt erzeugt ein ganz besonderes Wir-Gefühl im gesamten Konzern und setzt unglaubliche Energien frei."

Reining erinnert sich noch gut an die Skepsis, die dem Projekt anfänglich entgegenschlug: "Warum gehen Sie denn dieses hohe Risiko ein? Wenn Sie fertige Bahnen kaufen, und die funktionieren nicht, dann haben Sie doch gleich einen Schuldigen." Dem Geschäftsführer fiel die Antwort nicht schwer: "Ich will keine Schuldigen, sondern gut funktionierende Bahnen."

Vor der revolutionären Idee stand eine bittere Erkenntnis: die absehbare Investition von mindestens 75 Millionen Euro für neue Stadtbahnen. Denn die ältesten 25 der insgesamt 75 Stadtbahnzüge im Besitz der SWB haben ihre beste Zeit hinter sich. Gekauft wurden sie Mitte der siebziger Jahre bei der Düsseldorfer Waggonfabrik (Duewag), damals ein Garant für solide deutsche Wertarbeit.

Die inzwischen fast vier Jahrzehnte alten Bahnen vom Typ B100 (Linien 63, 66, 67, 68 und 16, 18) waren trotz der hohen Laufleistung von fast 100.000 Kilometern pro Jahr schier unverwüstlich und extrem wartungsarm. So etwas gibt es heute nicht mehr, ebenso wenig wie die Düsseldorfer Waggonfabrik, die um die Jahrtausendwende von Siemens geschluckt und abgewickelt wurde.

Heute stellen nur eine Handvoll Mischkonzerne dieser Welt überhaupt noch Bahnen her und bestimmen entsprechend die Preise, die Qualität der Verarbeitung und die Lebensdauer. Vor fast zwei Jahren kaufte die Münchner Verkehrsgesellschaft 14 nagelneue Trambahnen, die aber solch erhebliche Mängel aufweisen, dass sie bis heute ungenutzt auf dem Betriebshof verstauben.

Davon können auch die Bonner Stadtwerke ein Lied singen: Die 15 im Jahr 2000 beim kanadischen Bombardier-Konzern bestellten Fahrzeuge vom Typ K5000 (Linien 16, 18, 63) wurden erst drei Jahre später geliefert und wiesen so viele eklatante Mängel auf, dass die letzten Garantieschäden erst vergangenes Jahr beseitigt waren. Zudem sind die "modernen" Züge wesentlich lauter als die alten B100, für die Fahrgäste deutlich unbequemer (billige mechanische Blattfederung statt Luftfederung sowie harte, im Winter eiskalte Plastikschalen statt Polstersitze), für die SWB-Mechaniker erheblich wartungsintensiver - und teuer, was die Anschaffung, aber auch die Ersatzteile betrifft: Geschlossene vollelektronische Baugruppen lassen sich nicht mehr reparieren, sondern nur noch komplett austauschen.

Weitere Nachteile: die große Abhängigkeit vom Hersteller, zusätzliche Kosten für eine neue Werkstatt-Ausrüstung sowie die Kosten für die Entsorgung der alten Bahnen.

Der bitteren Erkenntnis folgte die verrückte Frage: Warum bauen wir unsere neuen Bahnen nicht selbst, indem wir die gute, alte B100 kernsanieren? Zwei Rentner, ehemalige Duewag-Ingenieure, wurden als Berater reaktiviert, eine bereits ausrangierte B100, die man der Feuerwehr als Brandübungsobjekt überlassen hatte, zurückgeholt, in ihre Einzelteile zerlegt und auf Herz und Nieren geprüft. Ergebnis: Karosserie und Fahrwerk waren noch immer in tadellosem Zustand.

Als SWB-Werkstattmeister Alexander Wingen gefragt wurde, ob er Lust hätte, die Projektleitung zu übernehmen, sagte er unter einer Bedingung zu: "Ich suche mir die Leute selber aus." Den Großteil pickte er aus den 2.400 Beschäftigten des Unternehmens, einige wurden aber auch neu eingestellt, unter anderem ein 51-jähriger Kfz-Mechaniker - nicht eben eine Selbstverständlichkeit in dieser modernen Arbeitswelt, in der mitunter schon 40-Jährige zum alten Eisen zählen. "Ich brauche auch Leute mit Erfahrung, die selbstständig denken und arbeiten können", sagt Wingen.

Der Stellvertreter des 44-jährigen Projektleiters ist ein 59-jähriger Sattler. Dessen Nähmaschine, ebenfalls gute deutsche Wertarbeit, sieht ganz so aus, als sei sie ein Nachkriegs-Exponat aus dem Haus der Geschichte. "Der Freddy Schwindt näht schneller als jede Hausfrau. Aber er muss ja auch jetzt die neuen Polsterbezüge für 1.500 Sitze nähen."

28 Millionen Euro (statt 75 Millionen für die ursprünglich vorgesehene Neuanschaffung) hat Wingen nun zur Verfügung, um 25 Uralt-Stadtbahnen auf den technisch neuesten Stand zu bringen. Statt drei Millionen Euro kostet jede einzelne "neue" Bahn 1,1 Millionen - und soll die nächsten 25 Jahre halten. Die erste ist fertig (signalrot statt lindgrün), die zweite im Innenausbau-Stadium, die dritte bereits aufgebockt und weitgehend entkernt; mehr als drei dieser 40-Tonnen-Kolosse passen in die eigens umgerüstete, 130 Meter lange und 30 Meter breite Werkhalle gleichzeitig nicht hinein.

Siebeneinhalb Monate Umbauzeit sind pro Bahn angesetzt. Anschließend sind die Züge innen wie außen nicht wiederzuerkennen. Neue Optik, modernste Technik. "Die Frontoptik und andere Details hat uns ein Düsseldorfer Design-Student kostenlos entwickelt", erzählt der Projektleiter stolz. "Sieht doch echt schnittig aus, oder?" Die Frontschürze lässt sich neuerdings aufklappen, dahinter haben Wingens Männer die Scheibenwaschanlage platziert. "Jetzt kann man im Stehen und im Hellen den Behälter nachfüllen. Früher musste man dafür unter das Fahrwerk kriechen und im Dunkeln arbeiten."

Weil den Ästheten Wingen die hässlichen Rauchmelder im Fahrgastraum störten, versenkte er sie unsichtbar in der neuen Deckenbeleuchtung. Die LED-Scheinwerfer stammen vom Audi, die Katzenaugen von einem Fahrradhersteller, die Frontverriegelung aus Mercedes-Nutzfahrzeugen, und weil die Stopplichter von Gesetz wegen gelb statt rot sein müssen, werden Auto-Blinklichter gekauft und auf Dauerstrom gelegt.

Die ergonomischen Sitze für den Fahrer stammen aus der Omnibus-Produktion, und weil das Team meinte, dass dessen Acht-Stunden-Arbeitsplatz bislang viel zu eng bemessen war, ist der Fahrerstand nun deutlich größer.

52 Kilometer Stromkabel werden pro Bahn neu verlegt, rund 20.000 Bauteile ausgewechselt. Eingekauft wird in aller Welt: Der zwölf Meter lange massive Deckenträger kommt zum Beispiel aus den USA, die gewölbte Windschutzscheibe (statt der bisher geteilten Scheibe) aus der Schweiz, die neuen elektronischen Türen (150 flächig verteilte Sensoren statt einer einzigen Lichtschranke) aus den Niederlanden. Die Polster erhalten eine Schutzmatte, damit sie nicht mutwillig aufgeschlitzt werden können, der Lack der Innenwände ist resistent gegen Graffiti. Und die Außenspiegel für den Fahrer sind nun beheizbar und von innen elektrisch verstellbar.

Der rückspeisefähige 600-PS-Antrieb arbeitet wie ein Dynamo: Energie, die nicht benötigt wird, fließt zurück ins Netz - so wie bei modernen Autos in die Batterie. Der Behindertenverband wurde konsequent an der Entwicklung des neuen Fahrgastraums beteiligt. Wird zum Beispiel der spezielle Rollstuhlfahrer-Signalknopf im Fahrgastraum gedrückt, bleibt die Tür an der nächsten Haltestelle länger als üblich geöffnet. Für mehr Sicherheit sorgen Videokameras sowie eine Sprechanlage, die in Notfällen eine rasche Kommunikation der Passagiere mit dem Fahrer ermöglicht.

"80 Prozent ist hier Handarbeit", sagt Alexander Wingen. "Denn jedes Teil muss erst angepasst werden, weil die industriell produzierten Bahnen seltsamerweise Längenunterschiede von bis zu zehn Zentimetern aufweisen." Eine überraschende Erkenntnis, die erst im laufenden Prozess gewonnen wurde. "Die Pionierarbeit endet erst mit dem dritten Wagen. Dann lassen sich Arbeitsabläufe optimieren, und bis dahin haben wir Erfahrung mit der technischen Zulassung durch die Aufsichtsbehörden." Die behandeln die restaurierten und modernisierten Züge nämlich wie neue Bahnen.

Richtig ärgerlich ist für den Projektleiter aber nur das zuvor ungeahnte Ausmaß an bürokratischen Regeln: "Das macht einen echt verrückt. Für die Halle brauchten wir eine Nutzungsänderung des städtischen Bauamts, obwohl da vorher schon Bahnen gewartet und repariert wurden. Unsere Schweißerprüfungen müssen jedes Jahr wiederholt werden, und man braucht inzwischen sogar eine spezielle Zulassung, um Fußböden in Bahnen verkleben zu dürfen."

Dennoch ist Wingen zuversichtlich, im Jahr 2018 alle 25 Bahnen runderneuert am Start zu haben. Und dann? Wer weiß. Vielleicht kommen dann schon die nächsten Bahnen ins Rentenalter und lohnen die Generalüberholung. Und neben den 75 Stadtbahnen gibt's ja auch noch 24 Straßenbahnen.

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