Interview mit Michael Jürgs Hommage an die Bonner Republik

Seit gestern ist das neue Buch "Wer wir waren. Wer wir sind" des ehemaligen Stern-Chefredakteurs Michael Jürgs auf dem Markt. Am Donnerstag, 3. September, liest er daraus im Haus der Geschichte. Mit Jürgs sprach Ebba Hagenberg-Miliu.

 Machte als Journalist Karriere in der Bonner Republik.

Machte als Journalist Karriere in der Bonner Republik.

Foto: Bertelsmann

Warum fangen Sie Ihre Deutschlandreise in Ihrem neuen Buch in Bonn im Haus der Geschichte an?

Michael Jürgs: Weil dort alles, was ich auf den weiteren Gleisen, den weiteren 24 Kapiteln, von diesem Bahnhof aus verfolge, gesammelt ist, weil dort Spuren zu allem zu finden sind. Deshalb muss Bonn für mich der Anfang sein. Ich lese aber sicher vor Ort etwas anderes Überraschendes.

Vielleicht gehen Sie mit Ihren Zuhörern nach Buchenwald?

Jürgs: Ja, das könnte an einem solchen Abend gut sein. Gerade die Mischung Weimar und Buchenwald erschreckt ja immer wieder, wenn man das vor Ort erlebt. Aber fast überall, wo ich hinfuhr, waren die Spuren dieser grauenvollen zwölf NS-Jahre, war also die kriminelle Vergangenheit der Deutschen noch zu finden. Das ist alles nach wie vor unglaublich.

Ihr Buch ist auch eine Hommage an die Bonner Republik?

Jürgs: Ja, denn sie ist die Republik der Zeit, in der ich als Journalist erwachsen wurde. Bonn war nicht nur rheinischer Kapitalismus, sondern auch Aufbruch. Bonn war verbunden mit Willy Brandt, mit "Jetzt wird es anders". Bonn heilte die Deutschen endlich vom Größenwahn und brachte sie zu dem, was das Leben lebenswert macht. In der kleinen Stadt am Rhein konnte die Demokratie als kleines Pflänzchen wachsen und immer stärker werden.

Ihre Sympathien sind also nicht unbedingt an der Spree?

Jürgs: Der Rhein ist ein lebendiger, durch Europa (!) fließender Fluss. Da ist es schon deshalb so schön, weil man leben lässt.

Werden denn jetzt diesem Bonn alle Ministerien nach Berlin verloren gehen?

Jürgs: Immerhin ist es ja gelungen, einiges von der UN nach Bonn zu holen. Im Wasserwerk können z.B. große Klimakonferenzen stattfinden. Aber zu Ihrer Frage: Doppelministerien halte ich für Schwachsinn. Man muss sich entscheiden. Aber ich glaube, man wäre gut beraten, einzusehen, dass das kleine Pflänzchen Bonn für bestimmte Ministerien ideal wäre.

Und für welche?

Jürgs: Für die, für die es völlig unwesentlich ist, ob die in Berlin sitzen. Landwirtschaft? Das ist mir zu billig. Verteidigung? Nein, das muss in Berlin sein. Aber warum muss die Staatsministerin für Kultur in Berlin arbeiten? Wir fabulieren hier natürlich über das, was nicht ist. Aber von der Tradition her könnte meiner Meinung nach auch der Justizminister gut in Bonn zu Hause sein. Warum kommt eigentlich nicht diese Geste?

Da laufen Sie in Bonn offene Türen ein. Zurück zum Haus der Geschichte. Sie haben Besucher beobachtet?

Jürgs: Richtig. Ich war zusammen mit Jugendlichen drin. Die schlurften so rein nach dem Motto: Gut, dass wir keine Schule haben. Und twitterten und simsten. Und plötzlich an der dunklen Wand mit den Namen der Opfer des Holocaust wurden sie stiller und stiller. Zehn Minuten später halfen sie sich beim Aufschreiben ihrer Fragen. Und ich merkte, wie tief sie das getroffen hat, was sie sahen, und ich dachte: Guck mal an, das Konzept des Hauses bringt also wirklich was.

Was ist eigentlich Ihr Lieblingsexponat?

Jürgs: Ich sitze gerne im Originalgestühl des Bonner Bundestags. Wenn da jemand vorne ans Rednerpult geht und etwas spricht und man im Gestühl die Deckel der Schreibpulte heben und fallen lassen würde, dann könnte man wie die Abgeordneten damals Zustimmung oder Ablehnung signalisieren. Das sind Zeichen einer lebendigen Demokratie. Klappern gehört zum Handwerk, ja auch in unser beider Beruf.

Sie kritisieren im Buch, die bundesdeutschen Leitmedien hätten den real existierenden Sozialismus viel zu lange verharmlost?

Jürgs: Richtig, etwa die Zeit schrieb damals: Ja, die DDR, das ist ein anderes Deutschland, aber so schlimm ist das alles ja gar nicht. Was nicht der Realität entsprach.

Üben Sie jetzt auch Selbstkritik?

Jürgs: Natürlich. Auch der Stern war mit im Boot. Wir schrieben gegen die Reaktionäre von der anderen Straßenseite an. Bis wir merkten, dass die DDR in der Tat ein Unrechtsstaat war. Der natürlich nicht vergleichbar mit dem der Nazis war. Nur für die DDR-Bewohner war der Unterschied damals herzlich uninteressant. Ich habe als Chefredakteur des Stern erst 1987/88 angefangen, DDR-Dissidenten eine Stimme zu geben. Da wurde man endlich wach.

Und wie sahen Sie die Wiedervereinigung?

Jürgs: Ich habe damals geschrieben: Freunde, dies gehört nicht zu meinen Träumen von Europa. Schaut genau hin, mit wem ihr euch ins Bett legt. Ob da nicht auch alte Stasi-Banden dabei sind oder die Wende-Egon-Krenze. Und das war dann auch mein letzter Leitartikel. (Lacht).

Lesung und Diskussion: Am Donnerstag, 3. September, ab 19 Uhr, ist Michael Jürgs mit seiner Deutschlandreise zu den bedeutendsten Orten deutscher Geschichte zu Gast im Haus der Geschichte, Willy Brandt-Allee 14. Der Eintritt ist frei. Im Handel erhältlich: Michael Jürgs, Wer wir waren. Wer wir sind. Wie Deutsche ihre Geschichte erleben, München 2015, 19,99 Euro.

Zur Person

Der Journalist Michael Jürgs (70) war Chefredakteur des "Stern" und des Zeitgeistmagazins "Tempo." Von 1992 bis 1994 moderierte er die NDR-Talkshow. Er schreibt für die Süddeutsche Zeitung, für den Berliner Tagesspiegel und erfolgreich Sachbücher.

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