Beueler Ehepaar vermisst Nach 20 Jahren Bewegung im Fall Hagen

BONN · Vor 20 Jahren ist das Beueler Ehepaar Doris und Winfried Hagen spurlos verschwunden. Selbst die Auslobung von einer Million Mark Belohnung ist ohne Erfolg geblieben.

Es gibt diese Fleckchen Erde, die bei oberflächlicher Betrachtung auf den Besucher wirken, als seien dort alle Schrecken dieser Welt ausgesperrt, abgeschirmt von einer unsichtbaren, schützenden Membran. Als könne das Böse allenfalls, ohne Schaden anzurichten, via Fernseher und Tagesschau Einzug halten.

Die Beueler Ortslage Heidebergen könnte ein solches Fleckchen Erde sein. Hübsche Häuser, vornehmlich gebaut zu jener Zeit, als die Bundeshauptstadt Bonn nach der Beendigung des Provisoriums boomte, umgeben von gepflegtem Rasen und sorgsam gestutzten Hecken und üppigem, sattem Grün, dem man ansieht, dass es schon seit Jahrzehnten gedeiht. Eine himmlische Ruhe herrscht in Heidebergen; die auf den nahen Tennisplätzen des SV Roleber geschlagenen Bälle geben der Zeit den Takt vor.

Viele Akademiker wohnen hier, man grüßt sich, man hält einen Plausch über den Gartenzaun, man wahrt höflich Distanz, man achtet die Privatsphäre, die hier zwangsläufig mehr Raum einnimmt als in manch anderem Bonner Quartier. Selbst über ein eigenes Naturschutzgebiet verfügt Heidebergen; klein, aber fein, 13 Hektar, das Wolfsbachtal. Am Ufer des Bachlaufs fühlen sich gefährdete Tiere und Pflanzen der Roten Liste wohl. Ein Paradies.

An einem Sommertag vor 20 Jahren riss das Böse ein Loch in die schützende Membran. Fast jeder in Heidebergen kann sich an das Datum erinnern: Am Nachmittag des 13. Juli 1994 verschwanden der Unternehmer Winfried Hagen, seine Frau Doris sowie der Hund der Familie, Cockerspaniel Toby, aus ihrer Mitte. Ohne jede Spur. Als hätten sie nie existiert. Am Morgen jenes Mittwoch nahm der damals 49-jährige Maschinenbau-Ingenieur noch einen Geschäftstermin wahr, seine zwei Jahre jüngere Frau Doris erledigte Einkäufe, besorgte Proviant für eine geplante Reise zur im Hafen von Workum am niederländischen IJsselmeer vertäuten Yacht des Paars.

Dort sind die Hagens aber nie eingetroffen. Ob sie überhaupt zu dieser Reise aufgebrochen sind, scheint fraglich, denn die drei Autos der Hagens (ein Audi 100, ein Mercedes und ein VW-Bus) standen unangerührt in den Garagen.

Niemand in der Nachbarschaft vermisste das Paar zunächst. Denn die Hagens gingen häufiger auf Reisen; seit dem Verkauf des familieneigenen Beueler Weltunternehmens Kautex besaß man nicht nur Geld, sondern auch Zeit im Überfluss, und neben der Yacht in den Niederlanden auch noch ein Ferienhaus in Oberstdorf im Allgäu. Nur der damals 28-jährige Sohn Klaus Dieter, einziger Nachkomme, leibliches Kind von Doris, adoptiert von Winfried Hagen, hätte das Paar vermissen können.

Schließlich wohnte der Student der Betriebswirtschaft mit seinen Eltern in Heidebergen unter einem Dach. Doch der Sohn erstattete erst am 16. August, mehr als einen Monat später, Vermisstenanzeige bei der Polizei. Und hatte dafür eine Erklärung parat: Am Nachmittag des 13. Juli sei sein Freund zu Besuch gekommen, man habe gemeinsam mit den Eltern Kaffee getrunken, er sei dann mit dem Freund in die Stadt gefahren. Als man am Abend zurückkehrte, war das Haus verlassen, Klaus Dieter Hagen wähnte die Eltern auf dem Weg nach Workum.

Am nächsten Morgen sei er mit dem Freund zu einer einwöchigen Reise nach Südfrankreich aufgebrochen und nach seiner Rückkehr gleich mit seiner in Köln wohnenden Freundin zum Urlaub in die Türkei geflogen. Erst am 8. August sei er in das immer noch verwaiste Haus in Heidebergen zurückgekehrt.

Wiederum eine Woche später, am 16. August, erstattet Klaus Dieter Hagen Vermisstenanzeige bei der Polizei, teilt mit, dass im Haus zwei Reisetaschen, ein Schminkkoffer, Reisepässe und Kreditkarten fehlten - und wendet sich Tage später aus eigenem Antrieb an die Presse: "Ich bin sehr beunruhigt. Ich klammere mich an jeden Strohhalm." Polizeisprecher Harry Kolbe erklärt da zwar noch auf Anfrage: "Hinweise auf ein Gewaltverbrechen liegen nicht vor."

Aber am 2. September stellt ein Großaufgebot der Polizei das Anwesen der Hagens am Rande des Naturschutzgebietes auf den Kopf, auch die Kollegen in den Niederlanden und im Allgäu werden aktiv. In Oberstdorf versichert ein Nachbar, der sich um das Ferienhaus der Hagens kümmert, das Paar an Ostern zum letzten Mal gesehen zu haben. Am 6. September klingt Präsidiumssprecher Harry Kolbe schon anders als noch im Monat zuvor: "Die Ermittlungsergebnisse geben keinerlei Hinweise, dass die Eheleute freiwillig ihren gewohnten Lebensbereich verlassen haben."

Der Audi und der Mercedes sind inzwischen aus Heidebergen verschwunden. Die Polizei schaltet die Öffentlichkeit ein, verteilt 500 Flugblätter, die Staatsanwaltschaft lobt 3000 Mark Belohnung für sachdienliche Hinweise aus, Verwandte und Freunde des Paares weitere 12.000 Mark. Das Ergebnis ist enttäuschend. Auch vom Sohn ist nun keine Hilfe mehr zu erwarten: "Er ist nicht mehr kooperationsbereit", sagt ein Kriminalbeamter. "Er spricht nicht mehr mit uns."

Inzwischen sind die Ermittler davon überzeugt, dass im Haus bewusst falsche Spuren ausgelegt wurden, die auf eine Urlaubsreise deuten sollten, während andere persönliche Gegenstände, die das Ehepaar nach Aussage von Freunden stets mit auf Reisen nahm, im Haus geblieben waren. Der Audi 100, der im Juli unangerührt in Heidebergen stand, wird im Oktober in der ungarischen Hauptstadt Budapest als gestohlen gemeldet.

"Mauer des Schweigens durchbrechen" (Landgericht Bonn)

Verwandte und Freunde des Paares erhöhen die Belohnung auf 100.000 Mark und schalten einen Privatdetektiv ein. Beides führt zu keinem Erfolg. Befürchtungen werden laut, die osteuropäische Mafia könne mit dem spurlosen Verschwinden des Paars zu tun haben: Winfried Hagen tätigte Immobiliengeschäfte in Polen, der Junior handelte dort mit Autos.

Ein Riss geht durch die Hagen-Sippe. Der Sohn besitzt eine Generalvollmacht seiner Eltern für alle finanziellen Angelegenheiten (von einem zweistelligen Millionenvermögen ist die Rede), doch die Geschwister des Vaters erwirken im Dezember 1994 beim Bonner Amtsgericht die Einsetzung eines Abwesenheitspflegers. Klaus Dieter Hagen darf im Haus wohnen bleiben, muss aber Miete zahlen, verliert die Generalvollmacht, hat keinen Zugriff mehr auf die Konten und darf auch den verbliebenen VW-Bus der Eltern nicht mehr benutzen.

Abwesenheitspfleger Ludger Westrick setzt aus dem Vermögen eine Belohnung von einer Million Mark aus. Dagegen geht der Sohn juristisch vor. Das Amtsgericht Bonn gibt Klaus Dieter Hagen Recht, doch die vierte Zivilkammer des Bonner Landgerichts kippt die Entscheidung im August 1996: Auch der Kammer dränge sich der Verdacht eines Gewaltverbrechens auf. Sollte in dem Vermisstenfall tatsächlich eine Beziehung zur osteuropäischen Mafia bestehen, dann könne nur eine hohe Summe die Mauer des Schweigens im berufskriminellen Milieu durchbrechen. Somit hat die bislang höchste in der deutschen Kriminalgeschichte ausgelobte Belohnung Bestand. Aber auch sie zeitigt keinen Erfolg. Nicht die Spur.

Lange hält sich die Bonner Kriminalpolizei im Interesse der laufenden Ermittlungen bedeckt. Erst im August 1996, zwei Jahre nach dem Verschwinden, gibt sie Einblick in eine Reihe von Merkwürdigkeiten ihrer Ermittlungen vom Sommer 1994. So hinterließ am 2. September 1994 eine unbekannte Frau mit starkem osteuropäischem Akzent eine Nachricht auf Klaus Dieter Hagens Anrufbeantworter. Sie sprach von nicht eingehaltenen Vereinbarungen gegenüber einer russischen Firma, deren Leute vergeblich in Warschau gewartet hätten, und forderte finanzielle Wiedergutmachung. Wenig später, am 8. September, ging in Leverkusen der Rolls Royce des Studenten in Flammen auf.

"Eine solche Akte wird nie geschlossen" (Robin Faßbender, Oberstaatsanwalt)

Im April 2001, fast sieben Jahre nach dem Verschwinden seiner Eltern, scheitert Alleinerbe Klaus Dieter Hagen auch in der dritten Instanz vor dem Oberlandesgericht Köln mit dem Versuch, an das zweistellige Millionenvermögen zu kommen. Das gelingt ihm erst vier Jahre später, als er seine Eltern nach Ablauf der im Verschollenheitsgesetz vorgeschriebenen Frist für tot erklären lässt.

Am 4. November 2005 veröffentlicht das Amtsgericht Bonn den entsprechenden Beschluss. Seither sind Winfried und Doris Hagen auch nach den Buchstaben des Gesetzes tot. Der Sohn nahm einen Wohnsitz auf Malta.

Das war's? "Ein solcher Fall gerät nie in Vergessenheit", versicherte jetzt Oberstaatsanwalt Robin Faßbender auf Anfrage des General-Anzeigers. "Eine solche Akte wird nie geschlossen." Doch hinter den diplomatischen Worten des Leiters der Abteilung Kapitalverbrechen scheint sich mehr zu verbergen. Offenbar kommt nach 20 Jahren Bewegung in den Fall. Die Bonner Ermittlungsbehörden haben Kontakt zur Redaktion der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY" aufgenommen. Morgen Abend ab 20.15 Uhr wird das Verschwinden des Ehepaars als "Filmfall mit Spielszenen" zu sehen sein, sagt das ZDF.

Anschließend interviewt Moderator Rudi Cerne im Studio München den Bonner Kriminalhauptkommissar Franz Wirges. Der Kriminalist ist Spezialist für sogenannte Cold Cases (unerledigte Altfälle): Wirges hat vor zwei Jahren dem Ehemann der vermissten Rheinbacher Arzthelferin Trudel Ulmen das Geständnis entlockt, seine Frau 16 Jahre zuvor mit einem Kissen erstickt zu haben. Wenig später war er an der Lösung des fünf Jahre alten Vermisstenfalles Sigrid Paulus im Siebengebirge und des Vermisstenfalles Sandra D. in Eitorf beteiligt, ebenso an der überraschenden Aufklärung des Mordes an der Bad Godesberger Journalistin Regine Pachner - 19 Jahre nach der Tat.

"Aktenzeichen XY", Mittwoch, 11. Juni, ZDF, 20.15 Uhr.

Kautex: Weltmarktführer aus Beuel, gegründet 1935 als "Galvanische Werkstätten" in Siegburg

1935 eröffnete Reinold Hagen, der Vater von Winfried Hagen, seine "Galvanischen Werkstätten" an der Wilhelmstraße in Siegburg. 1945 wurde die Firma in "Kautex" umbenannt und zog in die damals noch selbstständige Gemeinde Holzlar. Das Unternehmen nahe der B56 an der Grenze zu Hangelar wuchs mit dem Wirtschaftswunder und schrieb Industriegeschichte. Firmengründer und Erfinder Reinold Hagen galt als Pionier der Kunststoffverarbeitung und sammelte Patente wie andere Leute Briefmarken.

Die Familie verkaufte die Sparte Maschinenbau 1976 an den Krupp-Konzern, 1989 die Sparte Kunststoff an Klöckner und brachte den Großteil des Erlöses in die Hagen-Stiftung zur Förderung der Ausbildung und Qualifizierung junger Menschen ein. Heute sind die beiden ehemaligen Kautex-Sparten Kunststoff und Maschinenbau diesseits und jenseits der Beueler Kautexstraße zwei getrennte Unternehmen mit verschiedenen Eigentümern. Kautex Maschinenbau gehört zu 50,1 Prozent dem fünfköpfigen Management, 49,9 Prozent einer Berliner Beteiligungsgesellschaft.

500 Mitarbeiter kümmern sich um die Herstellung und den Vertrieb von Maschinen, mit denen neben anderen Produkten die populären Bobbycars hergestellt werden, die meistverkauften Kinder-Fahrzeuge der Welt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite produziert Kautex Textron im Besitz eines US-Konzerns neben Verpackungen aus Kunststoff als Weltmarktführer Treibstofftanks für Autohersteller in aller Welt, etwa für Porsche. Der Umsatz lag 2012 bei 1,2 Milliarden Euro. Weltweit beschäftigt Kautex Textron rund 5500 Mitarbeiter, davon 650 in Beuel, weitere 110 in Duisdorf.

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