Gespräch am Wochenende Ruth Schlette: "Erinnern für die Zukunft"

Wenn Ruth Schlette sich zum Studium im Wohnzimmer niederlässt, hat die Historikerin ihr Ziel stets im Blick. Die Bonner Rheinanliegerin forscht seit Jahren über das Schicksal der Beueler Juden. Mit der 80-Jährigen sprach Silke Elbern.

 Täglich sitzt Ruth Schlette am Schreibtisch.

Täglich sitzt Ruth Schlette am Schreibtisch.

Foto: Max Malsch

Sie kommen aus einem katholischen Elternhaus. Wann gab es die erste Verbindung zum Judentum?
Ruth Schlette: In dem Internat, das ich nach dem Krieg besuchte, hatten wir auch jüdische Kinder. Darüber sprach man aber nicht. Als mir Mitte der 1960er Jahre eine Kölner Jüdin von ihrem Schicksal in Theresienstadt erzählte, wollte ich das Thema nicht an mich heranlassen. Es hat lange gedauert, bis ich mir eine Vorstellung davon gemacht habe, was es für ein Kind bedeutet, wenn es versteckt wurde oder über zwei Jahre nicht wusste, was mit den Eltern ist.

Erklärt sich so Ihr zwar später, aber dafür umso größerer Einsatz für die Geschichte der Juden, speziell in Beuel?
Schlette: Ja. Erst Scham und Abwehr, dann langsame Annäherung, schließlich die Bereitschaft, das Schweigen aufzubrechen - so ging es mir.

Ihren Einstieg haben Sie über die Beueler Initiative gegen Fremdenhass gefunden.
Schlette: Als wir uns 1992 nach Übergriffen auf Asylbewerber in Deutschland gegründet haben, geschah das aus dem Bewusstsein heraus, dass der Fremdenhass heute und der im Holocaust endende Rassismus damals eine enge Verbindung haben.

Was war Ihre Aufgabe in der Initiative?
Schlette: Als Historikerin in der Gruppe fiel mir die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Zeit in Beuel zu. Es gab so gut wie nichts Greifbares, die Juden waren scheinbar spurlos verschwunden, nur wenige Beueler konnten und wollten sich erinnern. Die Nazis hatten im März 1945 viele Dokumente zerstört. Wir konnten aber an Vorarbeiten von Johannes Bücher, Erhard Stang, Pfarrer Klaus Borchert und Schülern der Integrierten Gesamtschule anknüpfen.

Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis, auch nach den Gesprächen mit Zeitzeugen?
Schlette: Die Nazis in Beuel waren wohl sehr einflussreich, auch noch nach dem Krieg. Es gab reihenweise Persilscheine für Leute, die an dem Synagogenbrand und der Inhaftierung der männlichen Juden am frühen Morgen des 10. November 1938 beteiligt waren.

Lief die Zerstörung der Beueler Synagoge an der heutigen Ecke Siegfried-Leopold- und Friedrich-Friesen-Straße so ab wie in anderen deutschen Städten?
Schlette: Was das Resultat angeht, ja. Aber eine Besonderheit gab es: Während in Bonn und der Region nicht-ortseigene Nazieinheiten die Synagogen in Brand setzten, haben das in Beuel die eigenen Leute um NSDAP-Ortsgruppenleiter Otto Klamp erledigt. Sie scheuten sich nicht, die Synagoge in Brand zu setzen und Geschäfte der jüdischen Nachbarn zu plündern.

Sind die Täter zur Rechenschaft gezogen worden?
Schlette: Längst nicht alle. Wenn man die Prozessakten aus den 1950er Jahren liest, war es der böse Herr Klamp, der für alles verantwortlich war. Alle anderen waren nur "zufällig" dabei.

Wie hoch war der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung?
Schlette: Er lag 1933 in Beuel bei 0,7 Prozent. Dank Büchers gründlicher Studie über die Geschichte der jüdischen Gemeinde von 1965 kennen wir die Namen und Adressen von rund 160 Juden, die damals hier lebten. 44 konnten ins Ausland fliehen. Mindestens 80 wurden deportiert und ermordet. Viele blieben verschollen.

War Ihr Engagement in Beuel willkommen?
Schlette: "Lass die Sachen doch ruhen" war wie in anderen Orten auch ein häufig gehörter Satz, als wir anfingen. Umso bemerkenswerter war die Reaktion auf die Stolperstein-Aktion des Künstlers Gunter Demnig. Als der damalige Stadtarchivar van Rey die Idee in der Bezirksvertretung vortrug, fiel der Beschluss einstimmig, sie auf öffentlichen Bürgersteigen zu verlegen. Beuel war hier Vorreiter.

70 Stolpersteine sind verlegt, vieles ist aufgearbeitet - wie sieht die Zukunft der Initiative aus?
Schlette: Dass wir nicht überflüssig sind, hat sich am 1. Mai 2012 gezeigt, beim Aufmarsch der Neonazis in Beuel. Er stieß auf großen Widerstand - bei Alten wie Jungen. Da war die Gewissheit, dass wir die Rückkehr der braunen Gewalt und des Terrors nicht mehr wollen. Ausgerechnet der kleine Platz, der nach dem jüdischen Arzt Max Weis benannt ist, war 2012 das Zentrum der Protestbewegung. Besser lässt sich nicht illustrieren, was die Beueler Initiative anstrebt. Nicht das Gedenken um des Gedenkens willen, nicht die in Ritualen versteinerte Erinnerung, mit der die heutige Generation nicht mehr erreicht wird.

Aber was dann?
Schlette: Wir sind auf der Suche nach einer Brücke vom Damals ins Heute. Wir rufen zum Widerspruch gegen neue Formen der Ausgrenzung und Gewalt auf - zum Beispiel gegen den Sog einer wohlfeilen Islamfeindlichkeit oder die Diskriminierung von Fremden. Wir müssen erinnern für die Zukunft.

Sie haben kurz nach Kriegsende für eineinhalb Jahre in St. Louis studiert. Wie kam es dazu?
Schlette: Ich kam aus einer Unternehmerfamilie, aber meine Eltern wollten nicht, dass ich studiere. Insofern habe ich mich gefreut, dass ich gleich zwei Stipendien angeboten bekam. In Frankreich und Amerika. Ich wollte meinem Vater zeigen: "Ich brauch' Dich nicht, ich schaff' das schon."

Info

Wer sich engagieren will oder Fragen zum Thema "Juden in Beuel" hat, kann sich bei Ruth Schlette unter 02 28/47 09 87, melden.

Zur Person

Ruth Schlette wurde 1933 in Lindau geboren. Sie studierte Geschichte in München, Berlin und St. Louis/USA. Nach einer Tätigkeit als Wissenschaftliche Assistentin heiratete sie und bekam zwei Kinder.

Von 1971 bis zu ihrem Ruhestand arbeitete sie für eine Entwicklungshilfe-Organisation, 1971 ließen sich die Schlettes in Beuel nieder. Seit Kurzem leben die vierfache Großmutter und ihr Mann in Bonn. Seit mehr als 20 Jahren macht sie in ihrer Freizeit den Entspannungssport Qigong.

Veranstaltungen

Am Montag, 4. November, eröffnet die Beueler Initiative gegen Fremdenhass eine Ausstellung über ihr Wirken im Beueler Rathaus. Die Vernissage ist öffentlich und startet um 18 Uhr.

Am Samstag, 9. November, findet das Gedenken zur Pogromnacht von 1938 statt. Treffpunkt: 17 Uhr, Rathausstraße. Um 17.30 Uhr startet der Schweigegang zur Kundgebung am Beueler Synagogenplatz, um 18 Uhr beginnt die Gedenkveranstaltung im Jungen Theater, Hermannstraße 50.

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