Dechant Wolfgang Picken zehn Jahre in Bad Godesberg "Veränderung braucht Konsequenz"

Bad Godesberg · Vor genau zehn Jahren, im Advent 2004, kam Wolfgang Picken als Pfarrer nach Bad Godesberg. Über Erfolge und Herausforderungen in dieser Zeit sowie das soziale Gefüge vor Ort sprach mit ihm Rüdiger Franz.

Sieht es als Tatsache und Herausforderung,dass Anonymität und Einsamkeit in der Bevölkerung zunehmen: Dechant Wolfgang Picken im Gespräch mit dem General-Anzeiger.

Sieht es als Tatsache und Herausforderung,dass Anonymität und Einsamkeit in der Bevölkerung zunehmen: Dechant Wolfgang Picken im Gespräch mit dem General-Anzeiger.

Foto: Ronald Friese

Dechant Picken, die Kirche engagiert sich vielfältig für die sozialen Belange der Bürger. Können sie etwas zur sozialen Situation im Stadtbezirk sagen?
Wolfgang Picken: Wir stellen wie überall fest, dass die sozialen Nöte vieler Menschen komplexer und schwerer geworden sind. Zu finanziellen Schwierigkeiten kommen oft private Probleme, Krankheiten und psychische Belastungen hinzu. Auch in Bad Godesberg wächst die Zahl derer, die von den Anforderungen unserer Leistungsgesellschaft überfordert sind. Deshalb gründen wir Lotsenpunkte, die als leicht erreichbare Anlaufstellen dienen. Wir bilden Soziallotsen aus, die Hilfesuchende kompetent begleiten sollen. Bedeutung gewinnt auch wieder eine organisierte Nachbarschaftshilfe. Je näher die Hilfe an der Not der Betroffenen ist, um so wirksamer ist sie oft.

Wie bringt man die Bürger dazu, sich an solchen Modellen zu beteiligen?
Picken: Fest steht, dass Anonymität und Einsamkeit in der Bevölkerung zunehmen. Als Seelsorger erleben wir oft bedrängend, wie viele Menschen für sich stehen und nur noch wenige soziale Kontakte haben. Zugleich entwickelt sich aber in Teilen der Bevölkerung ein neues Interesse an sozialer Vernetzung und eine Bereitschaft zum gemeinnützigen Engagement. Die Bürgerstiftung Rheinviertel hat seit Jahren eine Ehrenamtskoordinatorin. Durch sie wurden schon viele soziale Aufgaben an Bürger vermittelt, Verbindungen hergestellt oder neue Initiativen gegründet.

Was tun die Kirchen in Bad Godesberg für Kinder und Familie?
Picken: Zunächst muss man sehr positiv feststellen, dass es in Godesberg viele Familien und Kinder gibt. Ich bewundere, was Paare und Alleinerziehende leisten. Sie dabei zu unterstützen, ist eine vordringliche Aufgabe der Kirche. Wir haben deshalb erheblich in den Ausbau unserer 14 Kindertagesstätten und drei Familienzentren investiert. Wir erleben die Tendenz zur Ganztagsbetreuung, hinzu kommt teilweise ein erweiterter Förderbedarf, auf den wir mit unserem heilpädagogischen Dienst antworten. Neben alledem bräuchte es aber eine nüchterne Debatte darüber, wie viel Bindung und Kontinuität im familiären Umfeld Kinder benötigen, und wie wir durch gesellschaftliche Veränderungen besser erreichen können, dass das möglich wird.

Ist in diesem Zusammenhang auch das Anliegen der Inklusion zu verstehen?
Picken: Inklusion setzt immer bei den Chancen an. Sie begegnet struktureller Ungerechtigkeit und fördert den Gemeinsinn. Deutlich wird dabei aber auch, dass Umprägungen viel Aufwand fordern. Veränderungen fordern Konsequenz. Aber leider mangelt es überall am erforderlichen Geld. Wenn die Politik hier Veränderung will, wird es mehr Anstrengung brauchen. Wir haben bei der Gründung des Inklusionskindergartens der Bürgerstiftung Rheinviertel erlebt, dass der Rückhalt aus der Bevölkerung für die Inklusion groß ist.

Warum ist das ein Anliegen für die Kirche?
Picken: Als Kirche haben wir den Auftrag, möglichst alle Menschen im Blick zu haben. Das Vorbild Jesu kennt keine Unterschiede hinsichtlich der Würde und Bedeutung des Einzelnen. Deshalb muss Kirche besonders da stehen, wo Menschen benachteiligt werden. Aus dieser Motivation sind in Bad Godesberg gerade aus dem Raum der Kirchen viele Impulse entstanden. Das betrifft nicht nur den Einsatz für Arme oder für Kinder und Familien, sondern auch die Begleitung der Kranken und Sterbenden. Sie finden etwa durch die unterschiedlichen ambulanten und stationären Hospizinitiativen, nicht zuletzt in den Altenheimen, mehr Zuwendung.

Wie steht es um die Jugend? Fällt die hinten runter?
Picken: Wir können mit Freude feststellen, dass es viele junge Menschen gibt, die sich in Kirchen und Vereinen einbringen. Es gibt natürlich auch Jugendliche, die ihren Platz noch nicht gefunden haben. Sie wurden lange Zeit sich selbst überlassen, dadurch wurde das Phänomen verstärkt. Jetzt verstärkt der Sparzwang der Stadt das Problem. Zugleich gibt es gute private Bemühungen wie etwa das One-World-Café. Allerdings muss man sehen: Wenn Integration und Partizipation gelingen sollen, braucht es mehr gemeinsames Bemühen der Kommunen und eine noch aktivere Unterstützung auch der christlichen und islamischen Gemeinden.

Wie lässt sich ein soziales Bewusstsein stärken?
Picken: Einerseits ist das ein wichtiger Auftrag unseres Bildungssystems. Erwachsene erfahren Impuls und Formung des sozialen Gewissens bei den Kirchen mit ihren Gottesdiensten und ihrer Verkündigung. Sie haben eine unersetzliche Bedeutung für das Sozialwesen, weil sie die Lebenswirklichkeit an den Idealen Jesu spiegeln und zu einer permanenten Auseinandersetzung herausfordern. Hier wird Gemeinschaft gefordert und geübt. Und etwas anderes ist für die Stärkung des sozialen Bewusstseins unerlässlich: Wir modernen Menschen müssen mehr im Blick haben, dass sich seelische Ressourcen verbrauchen. Wenn der Mensch sein Inneres und die Liebe zu sich selbst vernachlässigt, wird die Liebe zum anderen schwer.

Die Zusammenlegung zu einem Seelsorgebereich hatte zu Beginn zu Verwerfungen geführt. Wie nehmen Sie die Stimmung im Dekanat diesbezüglich inzwischen wahr?
Picken: Die Stimmung ist konstruktiv und entspannt. Die Zusammenarbeit in den Gremien entwickelt sich sehr gut. Erste gemeinsame Projekte sind auf den Weg gebracht, weitere in Planung. Es wird sichtbar: Das Miteinander bringt Vorteile, ohne dass dabei die einzelnen Kirchorte zu kurz kommen. Weihbischof Puff hat bei seiner Visitation festgestellt, dass wir auf einem sehr guten Weg sind und wertvolle Pionierarbeit für das Erzbistum geleistet haben. Das sehe ich auch so. Jetzt wird es darauf ankommen, die geschaffene Struktur noch weiter mit Leben zu füllen und möglichst viele Menschen mitzunehmen.

ZUR PERSON

Der 1967 in Köln geborene Priester studierte in Bonn und Rom Theologie, Philosophie, Politik- und Sozialwissenschaften. Wolfgang Picken leitet seit 2004 als Pfarrer die Gemeinde Sankt Andreas und Evergislus in Rüngsdorf und Plittersdorf. Seit Anfang 2009 ist er Dechant des Dekanates Bonn-Bad Godesberg.

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