"Wir wollen Brücken schlagen mit Musik"

Tannenbuscher Sepp-Gregor-Haus beherbergt Europas größte Sammlung von Volksliedern

"Wir wollen Brücken schlagen mit Musik"
Foto: Roland Kohls

Bonn-Tannenbusch. Wer würde das vermuten? Hinter der schlichten Tannenbuscher Reihenhaus-Fassade verbirgt sich eine europaweit einzigartige Sammlung. Zuerst fällt der Blick auf einen großen ovalen Tisch im Wohnzimmer, bedeckt mit akribisch sortierten Papieren.

An der Wand entlang ziehen sich Bücherregale, in Kisten finden sich CDs, weitere Bücher, noch mehr Papiere. Folgt man der Treppe in den Keller, stapeln sich dort systematisch beschriftete Pappkartons in einem Bord, in einem anderen stehen verschieden farbige Pappdeckel dicht an dicht.

Das Haus beherbergt Archiv und Forschungsstelle der seit knapp 60 Jahren existierenden Gesellschaft "Klingende Brücke", die Lieder in allen Sprachen Europas sammelt und erforscht - und singt: 23 sogenannte Liedstudios gibt es deutschlandweit und in einigen Nachbarländern, in denen die Mitglieder sich regelmäßig treffen und die Lieder in den Originalsprachen erarbeiten. "Wir wollen Brücken schlagen durch Musik", erläutert Gert Engel, Vorsitzender der Gesellschaft.

Die Idee geht zurück auf den gebürtigen Wiener Josef Gregor (1903 bis 1987). Er gründete mit einigen Freunden 1949 in Essen den ersten Singkreis. Seine Vision damals: Durch das Erlernen der Lieder aus den Nachbarländern wollte er die durch den Krieg zerstörten kulturellen und menschlichen Beziehungen wiederbeleben.

Engel, früher Mitarbeiter des Gründers, betreut heute gemeinsam mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Sonja Ohlenschläger das "Sepp-Gregor-Haus" in Tannenbusch - so benannt nach dem Gründer.

Sie erläutern ihre Arbeit. Für jedes Land werden die bekanntesten Lieder ausgesucht, dazu Illustrationen und Hintergrundinformation gesammelt. 20 000 Lieder, die kontinuierlich bearbeitet werden, umfasst der Fundus, rund 1 800 davon sind bereits auf Liedblättern veröffentlicht.

Dazu kommen zahlreiche Tondokumente. Muttersprachler helfen bei der Übersetzung und sprachlichen Erläuterung. Von Bonn aus werden die einzelnen Liedstudios mit Material versorgt, große Treffen mit deutschlandweiter und internationaler Beteiligung sowie Reisen organisiert. "Zum völkerverbindenden Gedanken der Klingenden Brücke gehört es, Begegnungen mit Menschen anderer Nationalität zu suchen", so Engel. Nächstes Reiseziel ist Bulgarien.

Immer wieder gibt es auch andere Projekte. "Wir waren jetzt für einen Monat mit einem multikulturellen Sing-Workshop an der Christophorus-Schule in Tannenbusch. Wir haben pro Woche zwei Lieder in verschiedenen Sprachen gelernt und am Ende ein Konzert gegeben. Das kam unheimlich gut an", berichtet Sonja Ohlenschläger. Ein weiteres Beispiel, für das es im Februar einen Förderpreis der Beethoven-Stiftung gab: ein Seminar zu den Volksliedbearbeitungen Beethovens. Brücken durch Musik bauen - das ist das eine Ziel. "Wir wollen die Lieder aber auch erhalten, weil sie zunehmend in Vergessenheit geraten", so Engel.

Die "Klingende Brücke"

Die Gesellschaft arbeitet an einem ehrgeizigen Editionsprojekt. Sie gibt den "Liederatlas der europäischen Sprachen" heraus. Bis dato sind vier Bände erschienen. Das besondere Konzept: Zu jedem Lied gibt es Übersetzung (eine Interlinear, also Wort-für-Wort-Übersetzung), Kommentar und Illustration.

Die Idee geht zurück auf Johann Gottfried Herders internationale Sammlung "Stimmen der Völker in Liedern" (1807). Die ersten drei Bände umfassen jeweils 100 Lieder in zehn europäischen Sprachen, der 2007 erschienene vierte Band ist den Staaten gewidmet, die 2004 der EU beigetreten sind. Band fünf ist in Planung und wird Volkslieder vom Balkan erfassen. Wer sich dafür interessiert oder andere Fragen hat, kann sich unter der Rufnummer (02 28) 66 61 96 bei der "Klingenden Brücke" informieren.

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