Bonner Köpfe "Wir Zeitzeugen dürfen nicht schweigen"

BONN · Neue Folge der GA-Serie: Der Schauspieler Jochen Stern warnt in Schulklassen vor der Verharmlosung der DDR-Diktatur.

Wie habe Alexander Solschenizyn gesagt? Wer den Gulag überlebe, habe die Aufgabe, seine Stimme für die zum Schweigen Gebrachten zu erheben. Jochen Stern schaut sein Gegenüber ernst an. Der Schauspieler, der in seiner mehr als 50-jährigen Karriere schon unzähligen fröhlichen, aber auch kauzigen Rollentypen Kontur gegeben hat, spricht ebenso gerne über sein zweites Lebensthema: das des Verfolgten im Stalinismus der frühen DDR.

Der Mann ist auf den bundesweiten Theaterbühnen unvergessen als Dorfrichter Adam in Kleists "Zerbrochenem Krug" oder als Hamm in Becketts "Endspiel". Er spielte sich in der TV-Kultserie "Ein Herz und eine Seele" als Freund von "Ekel" Alfred in die Herzen der Zuschauer. Er glänzte in Spielfilmen wie "Goodbye Lenin" oder "Aimee und Jaguar" und ist in Serien wie "Tatort" auch mit seinen 85 Jahren dauerpräsent. Und so jemand hat eine gefühlte Ewigkeit im berüchtigten Kerker von Bautzen gesessen?

Stern nickt. "25 Jahre Zwangsarbeit haben die Russen mir 1947, da war ich 19, wegen angeblicher Spionage verpasst. Die totale Willkür. Ich werde die Unterlagen in meinem nächsten Buch veröffentlichen." Seit vielen Jahren berichtet er von seinem Schicksal à la Solschenizyn in Klassenzimmern. Über das Zeitzeugenportal der Bundesstiftung Aufarbeitung kann ihn jede Schule buchen.

Irgendwie müsse er sich doch schuldig gemacht haben, dass er sechs Jahre Bautzen verpasst bekam, meinen die Schüler oft. So dass er erst nach Stalins Tod durch eine Amnestie in die Bundesrepublik frei kam. "Heutige Kinder begreifen nicht, was der Mensch dem Menschen alles antun kann", sagt Stern. Doch er schont die Jugend, deren Eltern in Ostdeutschland zum Thema meist schweigen, nicht.

"Im Kollektiv wird der Mensch gefährlich. In Diktaturen sind Henkersknechte alle gleich. Deshalb dürfen wir keinen Schlussstrich ziehen, sondern müssen unsere Demokratie schützen", betont er dann immer. Stern kann packend und authentisch erzählen: so den dramatischen Ablauf der zwei Tribunale, die ihn verurteilten. "Da standen wir plötzlich auf und sagten: ,Das ist doch alles erlogen. Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen'", erinnert sich Stern mit glänzenden Augen.

Mit rot angelaufenem Gesicht habe der russische Untersuchungsrichter geschäumt, das werde die jungen Leuten teuer zu stehen kommen. Beim zweiten Tribunal seien sie einzeln vorgeführt und brutal abgeurteilt worden. Und er könne von Glück reden, dass er nicht wie andere in die sibirischen Gulags verschleppt wurde oder direkt in Bautzen zu Tode kam. "Auf dem dortigen Karnickelberg liegen unzählige von uns Häftlingen begraben." Jetzt stockt selbst Jochen Stern die Stimme.

Bis zur Wende sei er nicht mehr in seine Heimatstadt Frankfurt an der Oder und damit in den Unrechtsstaat gefahren. "Ich hätte es nicht ausgehalten, wenn mich die Grenzsoldaten abgetastet hätten." Der Westen habe ihm, dem der DDR entronnenen Sträfling, den Neuanfang ermöglicht, dafür sei er sehr dankbar. Er machte in Göttingen das Abitur nach und studierte Jura.

Was ihn dann nach Bonn führte, wo er mit seiner jungen Familie "direkt am Hauptbahnhof, sozusagen auf Gleis 5" in einer Wohnung unterkam. Und bald am Studententheater seine alte Leidenschaft für das Schauspiel wiederentdeckte. "Den Referendardienst habe ich also nicht mehr angetreten, sondern bin dem Theater treu geblieben." Jetzt strahlt Stern.

Auch über die spannenden Stationen seiner Karriere kann er äußerst unterhaltsam erzählen - und kommt doch immer wieder zu seinem Herzensthema zurück. "Dass wir die Wahrheit auch über die DDR erzählen müssen." Dass Zeitzeugen wie er nicht schweigen und das Feld den trendigen Kommunismus-Verstehern überlassen mögen. "Ach, es war doch gar nicht so schlecht in der DDR. Wir haben doch auch gelacht. Wenn ich das schon höre." Jetzt bebt Jochen Stern, der über das Thema auch einige Bücher schrieb. Er frage sich halt nur, ob Ignoranten wie diese Mitmenschen sich jemals darum geschert hätten, dass andere unter Hammer und Sichel absolut nichts zu lachen gehabt hätten.

Typisch bönnsch

Das sagt Jochen Stern über seine Heimat:

  • An Bonn gefällt mir die Leichtigkeit des Seins in allen Lebenslagen.
  • Ich vermisse eigentlich gar nichts.
  • Mein Lieblingsplatz ist der Kaiserplatz mit dem Blick über die Poppelsdorfer Allee hin zum Poppelsdorfer Schloss. Und noch ein zweiter, geselliger: am Weinhäuschen am Rhein, in Mehlem.
  • Typisch bönnsch das innerstädtische Flair.
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort