Mit Kochlöffel und Rohrstock

BONN · Sonja bekam von der Mutter Schläge mit dem Rohrstock, wenn sie sich mal wieder beim Spielen die Kleidung schmutzig gemacht hatte. Detlev wurde vom Vater über den Stuhl gelegt, wenn er am Tisch seinen Teller nicht leer gegessen hatte. Und auch Monika wurde zu Hause böse versohlt, wenn sie die Erwartungen ihrer Eltern nicht erfüllt hatte.

Sonja, Detlev und Monika waren Kinder der 50er bis 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als in vielen deutschen Familien die Maxime galt: "Eine Tracht Prügel hat noch keinem Kind geschadet."

Dieser Satz lässt heute aufschrecken. Denn der Missbrauchskandal an Schulen und Kinderheimen hat Tabus gebrochen. Man redet plötzlich über Gewalt an Kindern. Und die Journalistin Ingrid Müller-Münch hat sich auf die Spur der familiären Prügelei gemacht. Sie hat Menschen wie Sonja, Detlev und Monika interviewt, hat dazu Juristen, Historiker, Therapeuten und Erziehungswissenschaftler befragt. Und darüber ein Buch geschrieben. "Die geprügelte Generation. Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen" heißt das Werk, das die WDR-Mitarbeiterin in diesen Wochen vorstellt. Ein übel zerhauener Teppichklopfer ist auf dem Titel zu sehen.

Als sie die ersten geprügelten Kinder ihrer eigenen Generation interviewte, um die Folgen zu analysieren, da habe sie festgestellt: Den meisten erging es genauso wie ihr selbst, die den Kochlöffel der Mutter zu spüren bekam, doch bislang nie darüber sprechen wollte. Die Erinnerung an die Schläge sei trotzdem ein Leben lang da gewesen.

"Sie haben bei dem einen das andauernde Gefühl ausgelöst: Keiner sieht mich, keiner mag mich, ich bin böse, ich bin ein Nichts. Denn jedes geprügelte Kind schleppt diesen schmerzhaften Ausdruck von Verachtung, der durch einen schlagenden Vater, eine ohrfeigende Mutter ausgedrückt wird, mit sich herum", so die Autorin, die 2009 mit ihrem in Bad Godesberg spielenden Titel "Zwei Welten" das Thema Jugendgewalt bereits in Buch und Theaterstück beleuchtete.

Unsicherheit, Vertrauensschwund, mangelndes Selbstbewusstsein, Depressionen und Verlustängste seien oftmals lang anhaltende Folgeschäden bei als Kind Misshandelten. Manch einer habe sich durch Therapien vom Horror befreit, der andere der Gewalt nicht entrinnen können - indem er sie selbst fortgeführt habe. Das Thema sei auf jeden Fall nie erledigt gewesen, so Müller-Münch. Doch viele der selbst Geschlagenen seien mutig geworden, hätten ihren eigenen Kindern bewusst den Rohrstock erspart und sie mit Zärtlichkeit und ohne Gewalt aufgezogen.

"Diese Generation hat sich befreit, hat die bleierne Zeit abgeschüttelt und hat aus den Fehlern der Eltern gelernt", sagt die Mutter eines Sohnes, dem sie dieses Buch mit Blick auf seine "glückliche Kindheit" gewidmet hat. Die gesetzlichen Grundlagen für die Verfolgung jeglicher Elterngewalt seien in den letzten Jahrzehnten endlich verabschiedet worden. Jugendämter und Frauenhäuser würden heute selbstverständlich um Hilfe gerufen.

Wenn auch weiterhin in Familien geschlagen werde, so habe die familiäre Gewalt gegen Kinder in der heutigen Gesellschaft zumindest weniger Chancen, meint Müller-Münch. Und erzählt ein Beispiel aus ihrer weiteren Nachbarschaft in Köln, wo das Jugendamt im Falle eines misshandelten Kindes sehr schnell informiert wurde. "So muss es auch sein." Und wer kommt in ihre Lesungen? "Da sind die Jüngeren, die fragen, wie das wohl mit ihren Eltern und deren Kindheit war", antwortet die Journalistin. Da seien die Älteren, die ganz plötzlich von ihren eigenen traumatischen Erlebnissen, aber auch von eigenen Erziehungsfehlern erzählten. "Und da sind viele, die sitzen einfach nur stumm und sagen nichts. Aber ich denke, jeder weiß, warum er gekommen ist."

Ingrid Müller-Münch: Die geprügelte Generation. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2012. 284 Seiten, 19,95 Euro

Lesungen finden statt am Donnerstag, 20. September, 19.30 Uhr, in der evangelischen Christuskirche, Wurzerstraße in Bad Godesberg, und am Mittwoch, 14. November, 19.30 Uhr, in der katholischen Familienbildungsstätte, Lennéstraße 5, Bonn.

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