Behandlungsfehler Fatale Fehler zwischen Alltagsroutine und Kostendruck

Bonn · Der medizinische Betrieb in Deutschland zählte in 2013 rund 691 Millionen Behandlungen. Da erscheinen 2273 Fehler nicht als Skandalgröße. Aber Experten vermuten eine hohe Dunkelziffer. Will ein Patient seinen Fall prüfen lassen, helfen Krankenkassen und Ärztekammern.

 Fehlerquelle Operationssaal: Etwa ein Drittel der Krankenhaus-Beschwerden von deutschen Patienten war durch chirurgische Eingriffe bedingt, berichtete jetzt die Bundesärztekammer. Die Zahl der Beschwerden ist unterdessen geringfügig gesunken.

Fehlerquelle Operationssaal: Etwa ein Drittel der Krankenhaus-Beschwerden von deutschen Patienten war durch chirurgische Eingriffe bedingt, berichtete jetzt die Bundesärztekammer. Die Zahl der Beschwerden ist unterdessen geringfügig gesunken.

Foto: dpa

Ihr Fall ging vergangene Woche durch die Medien: Daniela Weber sollte an einer Handsehne operiert werden. Ein kleiner Eingriff. Doch die Chirurgin operierte an der richtigen Hand an der falschen Stelle, nämlich das - gesunde - Gelenk am Daumen. "Als ich in den OP geschoben wurde, hätte man mich fragen können, aber ich wurde nicht gefragt", sagte die 50-Jährige im ZDF. Die Chirurgin schaute auf den OP-Plan - und verrutschte in der Zeile. Die Daumengelenks-OP betraf den Patienten nach Daniela Weber, deren Fall einer von 2243 anerkannten Behandlungsfehlern des vergangenen Jahres 2013 ist.

Schwerer traf es vor sechs Jahren einen Menschen am Medizinstandort Bonn. Bei einer Geburt kam es zu schwerwiegenden Komplikationen. Sie war mit einem Medikament eingeleitet worden, das zwar auch als Wehenbeschleunigungsmittel genutzt wird, aber nicht offiziell zugelassen ist. Der Schwangeren hätte es bei ihrer zweiten Geburt auf gar keinen Fall verabreicht werden dürfen. Denn ihr erstes Kind kam durch einen Kaiserschnitt auf die Welt. Dadurch bestand beim zweiten Kind das Risiko einer vorzeitigen Plazentaablösung oder eines Gebärmutterrisses. Die werdende Mutter wusste davon nichts.

Im Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Bonn heißt es: "Die Patientin wurde im Rahmen einer von ihr unterzeichneten Einverständniserklärung über die fehlende Zulassung für diesen Zweck, nicht aber über besondere Risiken nach einem vorangegangenen Kaiserschnitt belehrt." Zudem reagierten die Ärzte zu spät, als die Herztöne des Säuglings abfielen (LG Bonn, Az. 9 O 266/11). Der heute fast sechsjährige Junge ist geistig und körperlich schwerbehindert. Der Hennefer Anwalt Jürgen Korioth hat für die Familie des Jungen vergangenes Jahr ein Schmerzensgeld in Höhe von 400 000 Euro erstritten. Außerdem müssen die behandelnden Ärzte und die Klinik alle Kosten, die in Zukunft aus dem Fehler resultieren, übernehmen. Das kann Millionen bedeuten.

Für die Familien bedeutet das Geld ein erstes Aufatmen, denn die Folgen der fehlerhaften Geburt sind nicht nur psychisch und physisch schwerwiegend, sondern kosten auch viel Geld: Therapien, eine 24-Stunden-Betreuung, der Umbau zu einem behindertengerechten Haus, dazu ein Auto für den behindertengerechten Transport. Korioth ist froh über das Urteil: "Den Geschädigten geht es nach einem positiven Urteil viel besser."

Er selbst hat erlebt, was ein Behandlungsfehler bedeuten kann. Bei der Geburt seines Sohnes vor mehr als 30 Jahren sei unter anderem ein Betäubungsmittel genutzt worden, dass schon damals nicht mehr bei Geburten angewendet wurde. Zudem sei der Wehenschreiber lückenhaft gewesen. Der Junge kam geistig schwerbehindert auf die Welt. Korioth, gerade in den Endzügen seines Jurastudiums, begann nach Hinweisen auf einen Behandlungsfehler zu suchen. "Das war damals wie ein Stich ins Wespennest", erinnert er sich. Denn vor 30 Jahren galt ein Fehler der Ärzte noch als nahezu ausgeschlossen. Mit zwölf Jahren starb der Junge. Und Korioth blieb bei seinem Fachgebiet - dem Medizinrecht. Alles Einzelschicksale? Geht es nach dem aktuellen AOK-Krankenhausreport 2014, sterben mehr Menschen durch Ärztefehler als durch einen Unfall im Straßenverkehr. Zwar beurteilt auch Kai Behrens, Pressesprecher des AOK-Bundesverbandes, diese Schlagzeile heute als ein wenig plakativ, hält aber grundsätzlich an der Seriosität der Daten fest. "Wir brauchen mehr Patientensicherheit", sagt Behrens.

Konkret wurde es vergangene Woche in Berlin, wo die Bundesärztekammer von 2243 anerkannten Behandlungsfehlern in 2013 berichtete, von denen 77 tödlich endeten. Nach einem jahrelangen Anstieg der Patientenbeschwerden gab es 2013 (12 232) einen leichten Rückgang gegenüber 2012 (12 173).

Rund 75 Prozent der Beschwerden richteten sich gegen Krankenhäuser, etwa ein Drittel davon ging auf Operationen zurück. Die meisten Gutachten beschäftigten sich mit den "Arbeitsergebnissen" von Chirurgen und Orthopäden. Doch das spiegelt keinen orthopädischen Fehlertrend, denn die meisten Operationen finden eben an den "Bewegungsorganen", etwa an Knie und Hüfte, statt. Angesichts von 691 Millionen medizinischen Behandlungen pro Jahr erscheinen die in Berlin vorgestellten Behandlungsfehler-Fallzahlen eher gering, wenn es nicht eine große vermutete Dunkelziffer gäbe.

Es gibt die Statistiken der Ärztekammern und Schlichtungsstellen, aber dort landen nur die Anfragen von Patienten, die selbst aktiv werden. Andreas Crusius, Chef der Gutachtergremien, schätzt die Gesamtzahl der Prüfungsaufträge auf 40 000 pro Jahr. Darin nicht enthalten sind jene Patienten, die direkt vor Gericht ziehen und eben eine viel größere Zahl von Betroffenen, die sich nicht traut - die "zurückschrecken vor der Langwierigkeit eines medizinischen Prozesses", so Fachanwalt Korioth, aber auch vor den ungewissen Erfolgsaussichten eines solchen Prozesses. Hinzu kämen immense Kosten.

Indes schlafen auch Ärzte und Krankenhäuser nicht: Die Initiative "KH-CIRS-Netz Deutschland" fordert im Internet auf, "alle sicherheitsrelevanten Ereignisse" zu berichten. Dies seien "kritische Ereignisse, Beinahe-Schäden und Fehler, die zusätzlich für überregionales und interdisziplinäres Lernen relevant erscheinen. Oder ganz einfach: Das sollte mir/uns nicht noch einmal passieren". Seit 2005 existiert CIRSmedical. Im Mittelpunkt steht das gemeinsame Lernen aller Berufsgruppen im Krankenhaus. Natürlich geht es anonym zu, denn "CIRS hat nicht das Ziel, Schuld- oder Haftungsfragen zu klären", heißt es auf der Homepage.

CIRS (Critical Incident Reporting System / Berichtssystem über kritische Vorkommnisse) geht auf den englischen Psychologen James Reason zurück, der 1990 Unglücksberichte international bedeutsamer Katastrophen studierte. Seine Erkenntnisse mündeten beim Gesundheitssystem in das "Swiss-Cheese-Model": Sicherheitsvorkehrungen werden hier mit den Scheiben eines Schweizer Käses verglichen, die hintereinanderliegen. Dabei markieren die Löcher des Käses die Risikolücken. Man geht davon aus, dass bei einem intakten Sicherheitssystem ein Fehler, der das Loch der ersten Käsescheibe unerkannt passiert, durch die zweite - an dieser Stelle geschlossenen - Käsescheibe aufgefangen wird. Fatal wird es, wenn durch Planungsfehler oder knappe Ressourcen die Löcher sich hintereinander reihen.

Nur wenige Krankenhäuser, die der GA anfragte, beantworteten indes die Frage nach festgestellten Behandlungsfehlern mit absoluten Zahlen. Nur die Helios-Kliniken GmbH, die auch eine Klinik in Siegburg betreibt, pflegte Klartext. Die Firma führt auf ihrer Internetseite alle Haftpflichtfälle auf. Danach gab es 2012 davon 16 in Siegburg. In vier Fällen wurde ein Behandlungsfehler nachgewiesen. "Uns ist diese Transparenz wichtig", sagt Helios-Sprecher Tobias Pott. Schließlich stehe sie auch für Qualität.

Die Sprecher der anderen Kliniken hielten sich mit harten Zahlen zurück. Vielmehr flüchteten sie sich in vage Aussagen oder reagierten gar nicht. Entweder hieß es "Wir liegen im Promillebereich" oder es kam die Rückfrage "Was verstehen Sie unter einem Behandlungsfehler?" - Keiner bestritt jedoch, dass es Behandlungsfehler gibt. "Sie passieren und jedes Vorkommnis ist eines zu viel", sind sich Krankenhaus-Sprecher, Krankenkassen, Anwälte und Ärztekommissionen einig. Sie gehören zum Alltag.

Tatsächlich ist ein Behandlungsfehler schwer zu erfassen. Wann liegt einer vor? Wann handelt es sich nur um eine Komplikation? Es sei schwierig festzustellen, ob sich etwa ein Patient nach einem Eingriff auch wirklich an den Genesungsplan gehalten habe. "Nur weil die Einsetzung eines Herzkatheters heutzutage minimalinvasiv geschieht, bleibt das immer noch eine schwerwiegende Operation", sagt Christoph Bremekamp, Krankenhausoberer und Theologe bei der Marienhaus Kliniken GmbH in Bonn, zu der auch das Petruskrankenhaus gehört. Oftmals fühle sich der Patient fitter, als er sei, und beanspruche seinen Körper zu früh. Kommt es dann zu Komplikationen in der Genesung, sei es schwierig zu beurteilen, ob es sich um einen Behandlungsfehler oder um Überanstrengung handele. "Ein Patient muss seinen Teil zum Genesungsprozess beitragen", sagt Bremekamp. Der Patient selbst könne als Laie jedoch nicht einschätzen, was nun wirklich die Ursache für seine nicht planmäßige Genesung sei.

Kaum hatte der Behandlungsfehler-Report in Berlin die Pressebühne verlassen, begann eine Debatte mit erwartungsgemäß unterschiedlichen Standpunkten. Die einen fordern weniger Stress und Kostendruck für die Ärzte, während die Deutsche Stiftung Patientenschutz gerade das bestritt: Insbesondere Kliniken mit hohen Fallzahlen hätten eine geringere Fehlerquote. Und die Deutsche Krankenhausgesellschaft forderte mehr Geld für Personal und Infrastruktur, um mehr Patientensicherheit zu gewährleisten.

Gleich welche Maßnahmen in Zukunft die Fehlerquote verringern sollen: Es gilt, auch bloße Schusseligkeiten mit fatalen Folgen auszuschließen, wie etwa den Fall der Chirurgin, die beim Lesen des OP-Plans in der Zeile verrutschte und ein gesundes Körperteil operierte. Weltweit werden sogar gesunde Beine amputiert: 1996 in Bamberg, 2010 im Tiroler St. Johann, zuletzt 2013 in Rio de Janeiro.

Das Dilemma der Fallpauschalen

Krankenhäuser werden von Krankenkassen (Behandlung, Unterkunft, Verpflegung), Bundesländern (Infrastruktur) und teilweise privatwirtschaftlichen Trägern finanziert. Die Kosten für eine Behandlung werden nach den sogenannten Diagnosis Related Groups (DRG/diagnosebezogene Fallgruppen) berechnet. Die Pauschale berücksichtigt unter anderem die Art der Behandlung sowie Alter und Geschlecht des Patienten, ob es Komplikationen gab oder weitere Nebendiagnosen.

Die Krankenkassen monieren, dass ihre Ausgaben immer weiter steigen, während die Ausgaben der Länder sinken. Nach Berechnungen der AOK investieren die Länder seit 2002 rund 20 Prozent weniger, während die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Krankenhausbehandlungen um knapp 35 Prozent stiegen. Gleichzeitig erzielten die gesetzlichen Krankenkassen für 2013 einen Überschuss von knapp 1,2 Milliarden Euro, wie das Bundesministerium für Gesundheit mitteilte.

Kritiker sehen in diesem Abrechnungssystem den Beleg dafür, dass Krankenhäuser nicht mehr kostendeckend arbeiten, sondern leistungsorientiert. "Die Fallpauschalen haben schon einen gewissen Druck auf die Krankenhäuser", sagt Christoph Bremekamp, Krankenhausoberer im Bonner Petruskrankenhaus, das zu der Marienhaus Kliniken GmbH gehört.

Zur "blutigen Entlassung" - ein Wortpaar, das seit Einführung der Fallpauschalen immer häufiger gebraucht wird. Bis 2004 wurde danach bezahlt, wie lange ein Patient im Krankenhaus blieb: Je länger ein Patient ein Bett belegte, umso mehr Geld bekam das Krankenhaus. Die "blutige Entlassung" hingegen steht dafür, dass der Patient schon entlassen wird, bevor er vollständig genesen ist. Eine weitere Folge der Fallpauschalen ist die Spezialisierung auf besonders gewinnversprechende Operationen.

Der NRW-Krankenhausplan 2015 sieht vor, rund neun Prozent der Betten zu streichen. Vor allem in der Frauenheilkunde, der Inneren Medizin und der Chirurgie. Dafür sollen die Kapazitäten in der Psychiatrie/Psychosomatik, Geriatrie und Neurologie wachsen. Ein Hinweis auf den demografischen Wandel.

Außerdem zahlen Krankenkassen nur bis zu einer vorab festgelegten Anzahl von Behandlungen. Übersteigt ein Krankenhaus dieses Budget, zahlt es die Behandlung aus dem eigenen Topf. "Das ist für uns natürlich kein Grund, den Patienten abzuweisen", sagt Bremekamp. "Wir machen auch die 101. Hüftgelenksoperation, obwohl unser Kontingent erschöpft ist."

Ansprechpartner

  • Komplikationsquote: Viele Operationen sind geplant. Dementsprechend können sich Patienten vorab umfassend informieren. Anlaufstellen dazu sind die Servicestellen der Krankenkassen, aber auch die behandelnden Ärzte selbst. Sie sollten sich vorab die Zeit für ihre Patienten nehmen. Auch eine harmlos anmutende Blinddarmoperation rechtfertigt das persönliche Gespräch zuvor. Dabei sollte auch die Frage nach der Komplikationsquote gestellt werden. Zudem verweisen verschiedene Zertifikate zum Qualitätsmanagement im Krankenhaus auf die Standards. Auch diese können Patienten bei den Kliniken erfragen. Wer allerdings den OP-Tisch schon verlassen hat, ohne dass sein Zustand sich verbessert hat und deshalb einen Behandlungsfehler vermutet, muss zu einem langwierigen Prozess zwischen zwei und 15 Jahren bereit sein.
  • Gutachter-Prüfung: Der erste Schritt im Verdachtsfall auf einen medizinischen Behandlungsfehler ist, dass der Geschädigte oder deren Angehörige beziehungsweise der jeweilige Vormund sich bei der jeweiligen Ärztekammer des Landes oder ihrer Krankenkasse melden. Für Bonner Fälle ist die Ärztekammer Nordrhein zuständig. Zuerst prüft eine Gutachterkommission der Einrichtung, ob im vorliegenden Fall die Möglichkeit eines Behandlungsfehlers besteht. Die Bearbeitungszeit für einen solchen Antrag beträgt rund ein Jahr. Die Kosten der Gutachterkommission trägt nicht der Antragsteller, sondern die Ärztekammer Nordrhein. Kommt die Kommission zu dem Ergebnis, dass womöglich ein Behandlungsfehler vorliegt, wird der Fall an eine Schlichtungsstelle übergeben. Allerdings nur, wenn beide Parteien, also der behandelnde Arzt und der Betroffene, dem zustimmen. Dann ist eine außergerichtliche Einigung möglich.
  • Neben den Ärztekammern überprüfen auch die Krankenkassen mit Hilfe von Gutachtern, ob ein Behandlungsfehler vorliegt, wenn ein Patient einen Verdacht meldet. Sie helfen auch bei der Suche nach einem entsprechendem Anwalt.
  • Beweispflicht: Kommt es zu einem Prozess - gleich wer das Gutachten beauftragt hat - liegt die Beweispflicht normalerweise beim Kläger. Allerdings beinhaltet das Medizinrecht eine Sonderregelung, die sich an der Schwere des Vorfalls orientiert. Kann der Kläger allerdings nachweisen, dass es sich um einen groben Behandlungsfehler - beispielsweise Verwechslung, defektes Gerät, falsche Medikation - handelt, muss der Beklagte das Gegenteil beweisen.
  • NRW-Zahlen: In den vergangenen zehn Jahren stieg die Anzahl der Anträge in Nordrhein-Westfalen recht konstant an. Für das Jahr 2013 zählte die Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein 2235 Anträge. Eine Steigerung zum Vorjahr um rund sieben Prozent. Davon stellte sie in 466 Fällen tatsächlich einen Behandlungsfehler fest - eine Zahl, die im Promillebereich liegt. ga

Im Internet gibt es unter www.klinikfuehrer-rheinland.de weitere Informationen. Unter anderem werden schwierige Begriffe erklärt und Ansprechpartner genannt.

Der Ratgeber "Ihr gutes Recht als Patient" der Verbraucherzentrale NRW hat zudem Tipps zum Vorgehen bei Behandlungsfehlern zusammengestellt. Der Ratgeber kostet 9,90 Euro und ist über die Internetseite www.vz-ratgeber.de für zuzüglich 2,50 Euro (Porto, Versand) erhältlich.

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