Mit Herz und Verstand für Europa Diese Bonner stehen zur "Pulse of Europe"-Bewegung

Bonn · Auch in Bonn gingen Menschen, die noch nie zuvor demonstriert hatten, auf die Straße, um sich für Frieden, Freizügigkeit und Zusammenhalt einzusetzen. Vier von ihnen sprechen über ihre Motive.

Kopfsache oder Bauchgefühl? Zur Politik gehört beides. Das stellt die Bewegung "Pulse of Europe" unter Beweis, die sich im Winter 2016 ausgehend von Frankfurt (siehe Seite 2) in einem Schneeballsystem formierte, neben zahlreichen weiteren Städten nicht nur in Deutschland auch Köln und Bonn erreichte und Menschen auf die Straßen trieb, die zu einem großen Teil vorher noch nie an einer Demonstration teilgenommen hatten.

Ihr Antrieb? Frieden, Freizügigkeit, grenzübergreifender Zusammenhalt, also die Kernwerte der europäischen Union, scheinen in einer Zeit von Nationalismen wie Donald Trumps "America first" oder dem Brexit plötzlich nicht mehr selbstverständlich. So wuchs der Drang, für und nicht gegen etwas einzustehen, damit der europäische Markenkern nicht unter dem Verdruss über Brüsseler Bürokratie oder die Uneinigkeit der Mitgliedstaaten in der Flüchtlingsfrage verschüttet wird.

Für Bernadette Conraths, eine Frau der ersten Stunde der Bonner "Pulse of Europe"-Bewegung, ist das eine Überzeugungs- und Herzenssache zugleich. "Ich bin eine europäische Rheinländerin", sagt die 66-jährige Wachtbergerin, die 20 Jahre in Brüssel, aber auch in Italien gelebt hat. "In diesem kleinen Kontinent können wir unser Leben nur so aufrechterhalten, wenn wir zusammenstehen", ist sie überzeugt. Deshalb war es für sie keine Frage, dass sie dabei sein will, als im Team des trinationalen Wachtberger Partnerschaftsvereins einer im Fernsehen von "Pulse of Europe" Wind bekommen hatte. "Da müssen wir mitmachen", hieß es. Ein spontanes Treffen im Godesberger Café Bago, der Kontakt zur Frankfurter Keimzelle - und binnen drei Tagen stellte die Gruppe die erste Sonntagsdemo in der Bonner Innenstadt auf die Beine. Ein Wachtberger Landschaftsgärtner steuerte seinen Anhänger bei, ein Mitglied der Band Handmade die Lautsprecheranlage, so ging die erste Sonntagsdemo am 3. März 2017 mit Bordmitteln über die Bühne.

"Zu unserem Erstaunen waren viele Leute da", erinnert sich Conraths. Und so ging es Sonntag für Sonntag weiter. "Es war eine große emotionale Intensität", sagt Conraths. Mit bis zu 1000 Leuten in Spitzenzeiten. Bis zu den Wahlen in Frankreich. Einem Sieg für Macron, aber auch für alle Pro-Europäer. Dann gab das Kernteam den Staffelstab an Mitstreiter weiter.

"Die große Mehrheit verbindet ein positives Gefühl mit Europa"

Wenn der 76-jährige Ex-Wissenschaftsmanager Gerd Eisenbeiß, die 22-jährige Studentin Lucia Dölker, die 52-jährige Fremdsprachen-Korrespondentin Birgit Wichmann und die 66-jährige Beraterin Conraths nebeneinander auf der Bank im Bonner Bistro Roses sitzen, erschließt sich nicht auf den ersten Blick, was sie verbindet. Aber im Gespräch merkt man schnell, dass jeder von ihnen den Menschen zugewandt ist, Kontakte sucht, auch über Ländergrenzen hinweg, verschiedene Sprachen spricht, auch im Beruf gesprochen hat. Doch jenseits dessen, was sie neben ihrer deutlichen Werteorientierung eint, betonen sie selbst die Unterschiede. Parteipolitik spiele keine Rolle, Animositäten, Eitelkeiten, klar, die gebe es auch in ihren Reihen. Aber spätestens, wenn sie mit Hunderten in der Innenstadt zusammenkommen, überlagert das Engagement für Europa alles.

"Es liegt in der Luft, wir müssen uns positiv engagieren", spürte Gerd Eisenbeiß, der nach Conraths im Orga-Team mitwirkte. Für ihn war klar: "Die große Mehrheit verbindet ein positives Gefühl mit Europa, aber laut schreien, das tun immer die anderen." Den anderen nicht die Bühne zu überlassen, das ist ein starkes Motiv für viele der Pro-Europäer. Oder, wie Eisenbeiß' Frau es sagt: "Dann schreien wir eben auch."

Stattdessen haben sie lieber gesungen. Die Europahymne "Ode an die Freude" aus dem letzten Satz von Beethovens neunter Symphonie, die in Bonn natürlich besonders gern genommen wird. Aber auch "Insieme", Toto Cutugnos Siegerlied im Eurovision Song Contest von 1992, das von der Vereinigung der Europäer handelt. Oder die rheinische Version des Zusammenhalts der Völker, "Unsere Stammbaum" von den Bläck Fööss. Den gemeinsamen Gesang, die klare Struktur der Demos, die "strikt eine Stunde" dauern, mit Europa-Bericht und offenem Mikrofon, wo Teilnehmer von ihren Erfahrungen und Meinungen berichten, aber auch Gedichte vortragen oder Wünsche an die EU richten, empfinden alle Mistreiter als Erfolgsfaktoren. Genauso wie das Gefühl des Zusammenhalts.

Dennoch ist die Teilnehmerzahl nach und nach kleiner geworden. "Es war klar, dass es nicht auf die Dauer durchzuhalten ist", sagt der Realist Eisenbeiß, "aber das Feuer glimmt weiter." Die Bonner Bewegung macht weiter, hat sogar Spuren hinterlassen. Ihr langes blaues Banner mit den in Gelb aufgestickten Sternen und dem Schriftzug "Pulse of Europe Bonn" hängt in Brüssel im Museum. "Das fanden wir ganz toll", schwärmt Wichmann, die mitgereist war, um das Banner zu übergeben und mit EU-Vertretern zu diskutieren.

"Für mich ist Europa immer auch emotional, weil es um menschliche Kontakte geht"

Lucia Dölker, die an der Bornheimer Europaschule mit dem Thema in Kontakt gekommen ist, blickt derweil in die Zukunft. "Von der wöchentlichen Demo sind wir auf einen monatlichen Termin umgestiegen", sagt sie. Außerdem soll die Verlegung vom Sonntag auf den Samstag für mehr Laufkundschaft sorgen. Anders als die Älteren, die mit der EU vor allem Frieden und Wohlstand, manchmal aber auch die rechtmäßige Nachfolge der durch die Nationalsozialisten beschmutzten Idee des Nationalstaats verbinden, denkt sie auch an Reisen und Kontakte. Zum Beispiel zu Esten und Italienern, wie sie ihr auf der zunächst so unattraktiv klingenden Schulfahrt an die Europa-Akademie Otzenhausen begegneten.

"Für mich ist Europa immer auch emotional, weil es um zwischenmenschliche Kontakte geht", sagt die Politik-Studentin. Und hat zusammen mit den anderen bereits ein neues Ziel im Auge: die Europa-Wahl im Mai. Denn für sie steht fest: "Wenn die Kritiker eine große Fraktion im Europaparlament stellen, dann birgt das eine große Gefahr." Damit das nicht geschieht, werden sie wieder auf die Straße gehen.

Lesen Sie auf Seite 2 ("Anwälte der Einheit"), wie die Frankfurter Juristen Sabine und Daniel Röder mit einer E-Mail die "Pulse of Europe"-Bewegung in Gang setzten.

Anwälte der Einheit

Rechtzeitig Flagge zeigen für Europa und nicht erst dann protestieren, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist und Nationalisten die nächste Wahl gewonnen haben. Das war der andere Ansatz, den der Frankfurter Rechtsanwalt Daniel Röder und seine Frau Sabine verfolgten, als sie im Winter 2016 die Bürgerinitiative "Pulse of Europe" ins Leben riefen.

Die Wahlen in den Niederlanden, in Frankreich und in Deutschland standen bevor, als eine E-Mail im Freundes- und Bekanntenkreis der beiden kursierte und an andere womöglich Gleichgesinnte weitergereicht wurde. Sie rief zu einer Demonstration für den 27. November auf. Übrigens der erste Adventssonntag und damit nicht gerade der günstigste Termin für eine Demo. Trotzdem versammelten sich 200 Menschen im Nieselregen, um ein Zeichen für Europas Zukunft zu setzen. Die Röders hatten einen Nerv getroffen, das motivierte zum Weitermachen.

"Nach dem Brexit-Votum und der Trump-Wahl war meiner Frau und mir klar, dass die Demokratie und auch die Europäische Union mehr denn je infrage stehen", sagte Daniel Röder in einem Interview aus dem Frühjahr 2017, das auf der Internetseite der Initiative "Gesichter der Demokratie" nachzulesen ist.

Anders als Amerikaner und Briten wollten die Initiatoren aktiv werden, bevor die Nationalisten die Vormachtstellung einnehmen - und setzten damit eine Bewegung in Gang. Karlsruhe, Freiburg, Köln, Amsterdam, Sonntag für Sonntag gingen immer mehr Menschen zeitgleich auf die Straße. Paris, Düsseldorf, Bonn, Brüssel, Lissabon und sogar Bath in England - der proeuropäische Virus verbreitete sich weiter.

Von mehr als 20.000 Menschen in 60 Städten war zu Hochzeiten die Rede, wo Menschenmengen ihre Überzeugung artikulierten, dass sie, wie laut einer Bertelsmann-Studie die bis dato schweigende Mehrheit der EU-Bürger, hinter der Gemeinschaft stehen und sich sogar eine stärkere politische und wirtschaftliche Integration wünschen.

Aufgerüttelt durch das Brexit-Votum nutzten sie die Gelegenheit, die Vorteile der EU nicht länger als selbstverständlich zu betrachten, sondern als Wertegefüge, für dessen Erhalt es sich einzutreten lohnt. Aber nicht ohne Versäumnisse anzusprechen. "Die EU und auch die Mitgliedstaaten haben über Jahre eine positive Vermittlung der Vorteile der EU als Wertegemeinschaft schleifen lassen", findet Röder.

Zudem werde die Gemeinschaft vielfach mit Uneinigkeit, Krisen und Ängsten in Zusammenhang gebracht, zum Beispiel in Bezug auf den Euro oder auf Flüchtlinge. Dabei würden die Vorzüge vergessen. Ambivalent ist auch die Resonanz auf die Initiative der Röders. Einerseits ernteten sie Kritik, andererseits wurden sie unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

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