Kundus-Prozess in Bonn Deutschland lehnt gütliche Einigung ab

BONN · Um den Prozess ist Heinz Sonnenberger, langjähriger Vorsitzender der für Staatshaftungssachen zuständigen 1. Zivilkammer des Bonner Landgerichts, nicht zu beneiden. Denn seine Kammer hat nicht zu klären, was in der Nacht zum 4. September 2009 auf einer rund 6000 Kilometer von Bonn entfernten Sandbank im nordafghanischen Kundus-Fluss geschah.

Denn das ist unstrittig: Mindestens 140 unschuldige Menschen - Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer, Bewohner der vier umliegenden Dörfer - kamen beim Bombenangriff zweier US-Kampfjets, den ein deutscher Offizier befehligt hatte, ums Leben.

Sonnenberger und seine Kammer haben vielmehr zu klären, ob Georg Klein, damals Oberst und Kommandeur des rund sieben Kilometer Luftlinie von der Sandbank entfernten Stützpunkts der Bundeswehr, in jener Nacht unmittelbar vor dem fatalen Befehl wissen konnte oder wissen musste, dass es sich bei den Menschen auf der Sandbank keineswegs um bewaffnete Taliban-Kämpfer handelte. Denn nur wenn der deutsche Kommandeur von "Gefahr im Verzug" ausgehen musste, war der Befehl zum Angriff gerechtfertigt.

Anderenfalls haben der Bauer Abdul Hannan, der bei dem Angriff seine beiden kleinen Söhne verlor, und die sechsfache Mutter Qureisha Rauf, deren Mann in den Flammen starb, Anspruch auf Schmerzensgeld und Entschädigung. Deshalb haben sie die Bundesrepublik Deutschland verklagt.

Strafrechtlich hat Klein, inzwischen zum Brigadegeneral befördert und in Köln stationiert, nichts mehr zu befürchten, seit die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen einstellte. Für mögliche zivilrechtliche Folgen ist jedoch nicht er, sondern sein Dienstherr verantwortlich. Und weil das Verteidigungsministerium nach wie vor seinen ersten Sitz in der ehemaligen Bundeshauptstadt hat, wird in Bonn verhandelt.

Am Mittwoch war der erste Tag der Beweisaufnahme. Rund um das klassizistische Portal des Landgerichts gingen schon Stunden vor Prozessbeginn der Ü-Wagen der ARD-Tagesschau, Fotografen, Kameraleute sowie eine Hundertschaft der Polizei in Stellung. Auf der Wilhelmstraße demonstrierten rund 100 Menschen auf Einladung des "Bonn-Kölner Antikriegsbündnisses", während sich im Neubautrakt vor dem größten Verhandlungssaal des Landgerichts eine Menschentraube vor der Sicherheitsschleuse bildete.

Die Kammer eröffnete die Verhandlung eigens später, um all jenen, die noch draußen demonstrierten, Gelegenheit zu geben, der Beweisaufnahme beizuwohnen. Eine Geduldsprobe für die gegnerischen Parteien - auf der einen Seite die Bremer Anwälte der afghanischen Kläger: Karim Popal und Professor Peter Derleder; auf der anderen Seite Rechtsanwalt Mark Zimmer von der international operierenden Sozietät Gibson, Dunn & Crutcher, flankiert von einem halben Dutzend hoher Ministerialbeamter der Hardthöhe.

Als militärische Experten für Luftaufklärung bot die Klägerseite einen pensionierten Oberstleutnant, die Beklagten einen jungen Oberleutnant auf. Auf zwei riesigen Leinwänden wurden die automatischen Videoaufnahmen jener Nacht aus den in den beiden US-Kampfjets installierten Kameras gezeigt. Infrarot-Wärmetechnik.

Der kalte Fluss hellgrau, die Sandbank hellgrau, die Menschen kleine schwarze Punkte; ein ständiges Kommen und Gehen, ein Gewimmel und Gewusel um die beiden zuvor von Taliban-Kämpfern entführten, bis zum Rand mit Kerosin gefüllten Tanklastwagen, die sich auf der Sandbank hoffnungslos festgefahren hatten. Heute wissen wir: Die Taliban hatten die Dorfbewohner, die zu den Ärmsten dieser Welt zählen, animiert, sich mit Eimern, Kannen und Kanistern zu bewaffnen und kostenlos mit Treibstoff zu versorgen, zum Heizen, zum Kochen und zum Beleuchten ihrer Hütten.

Oberst Klein hingegen ging am späten Abend des 4. September 2009 von einer Heerschar bewaffneter Taliban-Kämpfer aus, die das Kerosin aus den Tanks luden, um damit den Stützpunkt der Bundeswehr anzugreifen. Für den militärischen Laien ist beim besten Willen nicht zu erkennen, ob es sich bei den kleinen schwarzen Punkten um bewaffnete Rebellen oder um harmlose Zivilisten handelt; für die beiden gegnerischen Militärexperten offenbar auch nicht, auch wenn sie sich um Interpretationen bemühen, etwa in der Frage, wie sich Taliban-Milizen im Unterschied zu afghanischen Zivilisten oder deutschen Soldaten bewegen.

Auch die beiden amerikanischen Piloten waren sich offenbar höchst unsicher, wie der dokumentierte Funkverkehr offenbart: Ob man nicht zunächst eine "Show of Force" versuchen solle, wie die Amerikaner die lautstarke Machtdemonstration per Tiefstflug nennen. Nein, das habe keinen Zweck, das vertreibe ja nur Zivilisten, aber nicht diese Taliban, hieß es vom deutschen Kommando.

Nicht nachvollziehen kann das Thomas Ruttig, Wissenschaftler und von der Kammer überraschend bestellter Gutachter. Ruttig, der sich seit 35 Jahren mit Afghanistan beschäftigt, mehr als zehn Jahre im Land gelebt und dort für die Vereinten Nationen, die Europäische Union und die deutsche Botschaft arbeitete, räumt mit einigen Klischees auf, und im Lauf der Befragung verfestigt sich der Eindruck: Wer wenig über das Land und seine Bewohner weiß, kann zu der Entscheidung des deutschen Kommandeurs kommen. Wer mehr über das Land weiß, wäre wohl zu einer anderen Entscheidung gelangt.

"Die Provinz Kundus hat rund eine Million Einwohner; im Jahr 2008 gab es unter ihnen gerade mal 580 Kämpfer. Die Taliban operieren in kleinsten Gruppen. Allein schon die große Zahl von Menschen auf der Sandbank sprach gegen eine Aktion der Taliban."

Richter Heinz Sonnenberger schlägt den Parteien nach vierstündiger Beweisaufnahme eine gütliche Einigung vor. Doch Anwalt Zimmer lehnt für die Beklagte ab: "Wir wollen die Rechtsfrage geklärt wissen." Soll heißen: Es gibt viele weitere Hinterbliebene, die noch klagen könnten; außerdem ist die Frage offen, ob die Bundesrepublik oder die Nato haften müsste. Also vertagt sich das Gericht. Am 11. Dezember will die Kammer mitteilen, wie es mit der Wahrheitsfindung weitergeht.

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