Gesundheit Wenn der Körper außer Kontrolle gerät: Leben mit Tics

Wetzlar · Schulterzucken, Grimassen ziehen, Räuspern - manch einer lebt mit einem Tic. Behandlungswürdig sind diese nur in schweren Fällen. Trotzdem verstecken viele Betroffene ihre Krankheit so gut es geht - aus Angst vor Ablehnung.

 Bei Fabiene Wengert begann das Tourette-Syndrom mit einem Schütteln der linken Hand. Ein besonderes Anzeichen der Krankheit sind Tics, Zuckungen und ungewollte Ausrufe.

Bei Fabiene Wengert begann das Tourette-Syndrom mit einem Schütteln der linken Hand. Ein besonderes Anzeichen der Krankheit sind Tics, Zuckungen und ungewollte Ausrufe.

Foto: Frank Rumpenhorst

Es begann mit einem Schütteln der linken Hand. Schreiben war für sie als Linkshänderin bald völlig unmöglich. Fabiene Wengert war 17 Jahre alt, als sie plötzlich die Kontrolle über ihren Körper verlor. Als weitere Tics hinzukamen stand fest - sie hat das Tourette-Syndrom.

"Tics sind kurze, unwillkürliche Bewegungen oder Lautäußerungen, die keinem Zweck dienen und den Betroffenen sinnlos erscheinen", erklärt Prof. Kirsten Müller-Vahl, Leiterin der Spezialsprechstunde für Tourette an der Medizinischen Hochschule Hannover. Die motorischen Tics betreffen meistens das Gesicht und den Kopf - etwa Augenblinzeln. Laut- oder Wortäußerungen gelten als vokale Tics. Treten mehrere motorische und mindestens ein vokaler Tic auf, sprechen Experten vom Gilles de la Tourette-Syndrom.

"Gewöhnlich zeigen sich Tics erstmals im Alter zwischen sechs und acht Jahren", so Müller-Vahl. In den allermeisten Fällen verschwindet dieser vorübergehende Tic aber nach einigen Monaten wieder - ganz von allein. Bleibt der Tic auch im Erwachsenenalter, können Betroffene lernen, diesen kurzfristig zu unterdrücken - ein großer Kraftakt.

Als bei Fabiene Wengert Mittelfinger-Zeigen und Fluchen hinzukamen, weigerte sich ihr Lehrer, sie weiterhin zu unterrichten. Die Ausbildung zur Sozialassistentin musste die junge Frau abbrechen. "Das führte bei mir zu einem richtigen Tief, ich kam mir plötzlich so sinnlos vor", sagt die heute 21-Jährige. Sie fühlte sich allein gelassen. Erst eine Selbsthilfegruppe gab ihr wieder neuen Mut.

Karin Malisch, Vorstandsmitglied beim InteressenVerband Tic und Tourette Syndrom (IVTS) hört das immer wieder. "Es ist wichtig zu erklären, dass Betroffene nicht krankheitsbedingt weniger intelligent sind." Der Verein hat DVDs erstellt, die zur Aufklärung eingesetzt werden können, beispielsweise an Schulen.

Tics und Tourette-Syndrom sind nicht heilbar. Bestimmte Regelkreise im Gehirn sind dauerhaft gestört, und ein Ungleichgewicht der Botenstoffe verhindert, dass Bewegungsimpulse gehemmt werden können. "Grundsätzlich müssen Tics nicht behandelt werden, nur weil sie da sind", sagt Müller-Vahl. Die Stärke der Beeinträchtigung sowie der Leidensdruck spiele eine Rolle.

Verschiedene Neuroleptika, die die Botenstoffe im Gehirn beeinflussen, blieben bei Fabiene Wengert wirkungslos. Das sogenannte "Habit Reversal Training", bei dem Patienten lernen, dem Tic eine gezielte Bewegung entgegenzusetzen und ihn damit abzuschwächen, vermindert die Tics in der Regel um bis zu 40 Prozent. Bei Fabiene Wengert folgte 2014 eine Operation, ihr wurden Elektroden in bestimmte Bereiche des Gehirns implantiert. Elektrische Impulse sollen die Tics hemmen. Die sogenannte tiefe Hirnstimulation kommt in besonders schweren Fällen zum Einsatz.

Die entscheidende Verbesserung kommt für sie allerdings erst mit einer Cannabis-basierten Therapie. "Die Wirksamkeit der Therapie mit Cannabismedikamenten ist bisher noch nicht erwiesen, es scheint aber so zu sein, dass diese nicht nur Tic-Störungen positiv beeinflussen, sondern auch Depressionen oder Zwänge eines Tourette-Patienten abmildern können", sagt Müller-Vahl, die eine Studie zu Cannabis-basierten Therapien leitet.

Fabiene Wengert engagiert sich heute für andere Menschen mit Tic-Störungen und Tourette-Syndrom . "Wenn ich die Wahl hätte, wollte ich nicht mehr ohne Tourette leben. Ich habe durch die Krankheit viel gelernt. Sie ist jetzt ein Teil von mir."

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