Stress and the City Macht uns das Stadtleben krank?

Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte lebt die Mehrheit der Bürger ein urbanes Leben: Städte sind Magneten, die sieben Milliarden Neuankömmlinge bis 2050 anziehen. Doch der Mensch ist für den Stress der Mega-Metropolen psychisch kaum gerüstet.

Fünf Millionen Menschen auf dieser Welt machen sich jeden Monat auf den Weg. Monat für Monat. Sie packen in abgehalfterten Bergbau-Käffern von Südwales ihre Habseligkeiten in einen Transporter und geben Gas, um dem grauen Wetter, der Langeweile und Bedrücktheit zu entkommen.

Tausende Meilen entfernt schnürt am gleichen Tag der Bauer im kargen indischen Bundesstaat Uttar Pradesh sein Bündel, packt eine junge Angestelltentochter in der chinesischen Provinz Yunnan ihre Tasche. Sie alle lassen ihre Dörfer zurück, um in den wilden, lärmenden Strudel der großen Städte zu tauchen - und zwar endgültig. In London, Beijing oder Mumbai wollen sie ihr Glück schmieden, und das hat natürlich auch mit Geld, Chancen und Lebensglück zu tun.

Drei Milliarden Teenager, Arme, Goldgräber, Wagemutige und Verzweifelte werden bis zum Jahr 2050 vom Land in die Metropolen dieses Globus ziehen; die städtische Bevölkerung Asiens und Afrikas verdoppelt sich von der Jahrtausendwende bis 2030. Schon in zehn Jahren leben 60 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, im Jahr 2050 werden es 70 Prozent sein, bis zum Ende des Jahrhunderts drei Viertel der Menschheit.

War Berlin Ende des 19. Jahrhunderts die am dichtesten bevölkerte Stadt der Welt, wachsen heute kaum bekannte Orte in Asien und Afrika zu Megacities heran. Luana in Angola oder Hangzhou in China etwa: Sie werden nach UN-Schätzungen in nur einer Generation die Zehn-Millionen-Einwohner-Marke geknackt haben - jene magische Grenze, um sich Megacity nennen zu dürfen. 30 solcher Riesenstädte wachsen in der kommenden Dekade heran. Zum Vergleich: 1975 gab es nur fünf.

Die Verstädterung der Welt ist, wenn man dem Autoren Doug Saunders folgt, die Entwicklung, die das 21. Jahrhundert am deutlichsten prägt: "Als die Menschen in Europa und der Neuen Welt das letzte Mal zu einem so dramatischen Wandel aufbrachen, vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, wurden daraufhin das Menschenbild, das Staatswesen, die Technik sowie das Wohlfahrtswesen vollständig neu erfunden."

In den nächsten 30 Jahren stellt uns die globale, urbane Transformation die schwierigsten Herausforderungen: Wie sollen täglich zehn Millionen Menschen auf engem Raum verpflegt werden? Wie verhindert man den Verkehrs- und Umweltkollaps?

Wohnraum wird immer teurer

Vielleicht noch wichtiger: Wie lässt sich durch kluge, urbane Planung eine psychische Kernschmelze gestresster Städter verhindern? Denn egal, ob wir uns die Zentren des Westens anschauen, die sich - wie London etwa - wegen knapper und damit teurer werdendem Wohnraum zu Lifestyle-Boutiquen für Reiche, Kinderlose und deren Bedienstete entwickeln oder die Asiens und Afrikas mit ihren millionenfachen Slumdog-Existenzen, egal, ob reich oder arm: Das Leben inmitten der großen Menschendichte verändert unser Gehirn.

Stadtleben ist längst ein bekannter Risikofaktor für psychische Erkrankungen, wie Depressionen oder Angststörungen. "Schizophrenie kommt in Städten sogar doppelt so häufig vor wie auf dem Land", sagt Mazda Adli, Psychiater an der Berliner Charité.

Die direkte, knallharte Dosis-Wirkung-Beziehung dürfte selbst Forscher verblüfft haben: Je größer eine Stadt, desto höher ist der Anteil an Schizophrenie-Kranken.

Fast jeder kennt den Stress der großen Stadt, das Gefühl der Erschöpfung, Wut und Ohnmacht, nach einem hektischen Tag abends in einer übervollen U-Bahn angerempelt oder in die müffelnde Achselhöhle des Nebenmannes gequetscht zu werden.

"Das kann uns wirklich den letzten Rest geben", sagt Adli, "aber solche Sachen machen uns noch lange nicht krank." Schuld ist auch nicht die Stadt an sich, dieser immer wache, lärmige, oft brutale Millionen-Hort, der uns Chancen bietet und gleichzeitig die letzte Kraft raubt.

Große Metropolen Gift für romantische Paarbeziehung

"Zu einem Krankheitsrisiko wird die Situation erst dann, wenn soziale Dichte und soziale Einsamkeit, also die Erfahrung des Ausgeschlossenseins, gleichzeitig auftreten", erklärt der Psychiater. Jede Größe für sich allein sei schon problematisch, aber in Mega-Cities potenzierten sich diese Faktoren.

"Man lebt in einer großen Stadt und ist doch so allein", schmachtete schon 1933 Marlene Dietrich, die ihr Leben zwischen Berlin, Hollywood und Paris verbrachte, treffend den Refrain zum Problem.

Viele New Yorker sind überzeugt, dass große Metropolen Gift für jede romantische Paarbeziehung sind, andere kultivieren ewige Distanz zu Neuankömmlingen: Städte sind wie Drehtüren, ein ständiges Kommen und Gehen, und wer ein paar Mal neue Freunde hat weiterziehen sehen, der wird danach ökonomischer mit seiner Zuneigung und Bindungsbereitschaft.

Der Anteil an Single-Haushalten in Städten jedenfalls steigt und steigt: In zwei Dritteln der Londoner Haushalte wohnen 2019 nur einsame Wölfe. Dieser soziale Wandel gibt in Tokyo längst Agenturen Vorschub, bei denen sich Großstadt-Solitäre "Freunde" für Geburtstage oder Partys mieten können.

Nicht einmal für Haustiere haben Megacity-Menschen Zeit (oder Platz): Katzen-Cafés, in denen man beim Latte Macchiato für wenige Stunden ein warmes Fellknäuel kraulen darf, boomen in allen Großstädten. Armseliges Zeichen der Zeit oder gesunder Fluchthelfer im unwirtlichen Beton-Moloch?

"Großstadtstress ist vielmehr Kriechstress"

Klar ist: Soziale Vereinzelung oder Isolation ist tödlicher als Übergewicht, üppiger Alkoholkonsum oder täglich 15 Zigaretten. Kombiniert mit unkontrollierbaren Lärm, Dreck, Abstiegsängsten, Zeitdruck und fehlenden Rückzugs- und Ruheinseln geraten Städte früher oder später zum toxischen Amalgam für den Menschen.

"Niemand kommt zum Psychiater und sagt: “Ich verzweifle an der Stadt!„", betont Mazda Adli, "Großstadtstress ist vielmehr Kriechstress, ein chronischer, versteckter Stress."

Untersuchungen von Städtern und Landeiern im Hirnscanner zeigen die handfesten Konsequenzen: Mannheimer Wissenschaftler fanden heraus, dass die Amygdala, Angst-Zentrum im Gehirn und Festplatte für sozial verursachte Störungen, bei Städtern unter Stress extrem reagiert. Heißt: Sie verarbeiten Emotionen ganz anders als Testpersonen vom Land es tun.

Die gleiche Hirnregion dreht auch auf, wenn Fremde den sozial üblichen Abstand missachten und uns näher kommen als uns lieb ist; sie dreht auf, wenn man den Job oder die große Liebe - kurzum Geborgenheit und sozialen Status in jeder Form - verliert. Die Amygdala der Städter funkt permanente Alarmbereitschaft.

Es dämmert den Forschern, dass sich hier ein episches psychologisches Problem zusammenbraut, wenn zwei Drittel der Menschheit 2050 in Metropolen leben. "Die Urbanisierung hat einen größeren Einfluss auf unsere Gesundheit als der Klimawandel", prophezeit sogar Mazda Adli.

Wie genau die Hirnschaltkreise von Metropolbürgern biochemisch heiß laufen, ist Gegenstand weiterer Forschungen - ebenso die Frage, ob es bestimmte Risikogruppen gibt, die für die toxische Mischung aus Einsamkeit und Menschenmasse psychisch besonders schlecht gewappnet sind.

Versuch an Ratten und Mäusen

Doch kann man sich überhaupt abschotten gegen die permanenten Zumutungen des Stadtlebens? John Calhoun, der im Dienst der amerikanischen Bundesgesundheitsbehörde schon Mitte des letzten Jahrhunderts "dichte-abhängige Mechanismen" an Ratten und Mäusen studierte, war am Ende seiner Versuchsreihen zum Pessimisten geworden.

Er beobachtete, wie die Tiere sich bei guter Versorgung von acht auf 2200 vermehrten - allerdings bei gleichbleibend wenig Platz. Innerhalb weniger Generationen degenerierten sie zu fiesen "Un-Mäusen": Rangniedere wurden von Alteingesessenen gebissen und gequält, männliche Tiere bildeten Gangs und drangsalierten die Weibchen, Mäusemüttern kam jedes Fürsorgeverhalten abhanden. Sie ließen ihre Babys zurück oder attackierten sie.

Schließlich stellte die deformierte Mäuse-Gesellschaft jede Kommunikation ein: Das typische Quietschen, das ihr Sozialgebaren untermalt, hörte auf. Die körperlich gesunden Tiere stierten nur noch stumm vor sich hin; Fortpflanzung fand nicht mehr statt. Auch in Megacities sinkt die Geburtenrate - so drastisch, dass sie in wenigen Jahrzehnten erstmals das Weltbevölkerungswachstum bremsen wird.

Von der Maus zum Menschen mag es ein großer, vielleicht ein zu großer Schritt sein. Calhoun aber glaubte bei allen Relativierungen, in Megacities schon das Tier im Menschen entdecken zu können - etwa bei Gewaltausbrüchen in den seinerzeit übervölkerten Slums der Vereinigten Staaten.

"In der U-Bahn werde ich zum Tier"

Auch eine Studie des Londoner Stadtrates 2010 zum Verhalten in U-Bahnen erinnert an Calhouns Rattenrennen: Zur Rush Hour, wenn Millionen Passagiere in kurzer Zeit auf dem engen Raum der Tube unterwegs sind, gibt kaum jemand den Sitzplatz für Ältere, Schwächere oder Schwangere auf.

Die Ellenbogen werden ausgefahren, die zwischenmenschliche Beißhemmung fällt. In der Befragung äußern sich die Kampf-Pendler dann auch freimütig: "In der U-Bahn werde ich, anders als im normalen Leben, zum Tier. Ich bin einfach nicht mehr ich."

Wer einmal beobachtet hat, wie rasend und zornig vor Ungeduld Pendler werden, wenn eine Station kurzzeitig gesperrt wird, etwa weil jemand am Gleis an einem Herzinfarkt stirbt, der ahnt: Die Jeder-gegen-Jeden-Maus biestert auch in uns. Und der Stadtstress gibt ihr Zucker.

Für ein ausgeglichenes und zufriedenes Leben, das gab Calhoun der Nachwelt mit auf den Weg, braucht es Spielraum. Ein Zuviel an sozialer Interaktion führt zu Aggression, Frust, Kummer, zu schlechtem Sozialverhalten und Persönlichkeitsstörungen.

Das ist freilich nur eine Seite des urbanen Paradoxons: Spannung und Entladung, Dichte und Ausgrenzung, Reichtum und bedrückende Armut, Stadtfrust und Stadtlust gehören eng zusammen. Und die Stadt ist für Milliarden Zuzügler ein Versprechen auf Wohlstand und Lebensglück.

"Drei Viertel der armen Menschen - derjenigen, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben müssen - leben auf dem Land", schreibt Städteforscher Doug Saunders. Ein Wegzug aus ländlichen Regionen sei in jeder messbaren Hinsicht ein Fortschritt: "Das Landleben ist gegenwärtig die häufigste Todesursache, die am weitesten verbreitete Ursache für Unterernährung, Kindersterblichkeit und eine verkürzte Lebenserwartung."

Mit großen Abstrichen, aber doch im Kern ähnlich sieht die Berliner Journalistin Barbara Schaefer die Lage für die Situation in Deutschland. Auch bei uns entleert sich der ländliche Raum, zieht es ehrgeizige Arbeitnehmer an die Jobstandorte Hamburg, München und Berlin.

Barbara Schaefer sieht das Stadtleben positiv

"Städte sind lebensrettend bis praktisch", sagt Schaefer, die die Vorzüge in ihrem Buch "Stadtlust: Vom Glück in der Großstadt zu leben" beschreibt. "Die Ärztedichte in Metropolen ist besser, wer im Zentrum wohnt, muss auch nicht pendeln und die Gehaltslücke zwischen Männern und Frauen ist bei Jobs in der Stadt halb so groß wie auf dem Land", so die Autorin.

Selbst für die Psyche sieht sie Pluspunkte: "Man kann in der Stadt zum geschichtslosen Individuum werden, denn niemand dort kennt den Ballast meiner Vergangenheit", ergänzt Schaefer, "auf dem Dorf bin ich für die anderen auf immer und ewig der Hoferbe und die Nichte eines Trinkers." Nicht das Heer der Fremden in der Stadt mache einsam, sondern das Land mit seiner menschlichen Monokultur: "Für Individualisten ist es in Städten viel einfacher, Gleichgesinnte oder eine Nische zu finden."

Doch was sind die optimalen Bedingungen für gesundes Stadtleben? Schaefer öffnet in ihrem Kreuzberger Arbeitszimmer das Fenster und hält den Telefonhörer in die Luft: "Wie Sie hören, hören Sie nichts", ruft sie in die Stille. Berlin sei stressfrei, weil die Autodichte nicht sehr hoch sei, es viele Parks gebe, man gut mit dem Rad vorwärts käme.

Für die schnell wachsende Fan-Gemeinschaft von Zeitschriften wie "Landlust", die kuratierte Brombeer-Hecken oder Fliedersträußchen in Hochglanz-Szene setzen, hat sie nur milden Spott übrig: "So ist das Landleben in Wahrheit ja nicht", betont sie, "genauso wenig hat die Stadt heute noch etwas mit den verheerenden Verhältnissen in Darstellungen von Heinrich Zille oder Charles Dickens zu tun."

Natürlich nimmt sich Berlin, ja, selbst London oder New York mit ihrer harten Lebensrealität, geradezu wie ein idyllisches Dorf aus, wenn man dagegen Delhi oder Dhaka sieht.

Doch manche westliche Metropole liefert die Anleitung zur gesünderen Stadt: "Alles, was mediterranes Leben fördert und Leute vor die Tür holt, bietet Lösungen für das Stadtstress-Problem", sagt Psychiater Mazda Adli, "belebte Sockelgeschosse statt verspiegelter Fronten, breite Bürgersteige, viele öffentliche Plätze - ein Bonn in XXL."

Eine interdisziplinäre Gruppe aus Stadtplanern und Medizinern ("Neurourbanisten") rund um Adli will jetzt die Arbeit aufnehmen und erforschen, wie gesündere Megacities beschaffen sein müssten.

Ein Wettlauf mit der Zeit

Es wird für sie ein Wettlauf mit der Zeit. In Beijing etwa kommen täglich 1300 zu den vier Millionen Autos hinzu. Um den Pendlerstress in den Griff zu bekommen, hat das Verkehrsamt bereits die Arbeitszeiten von über 800 000 Arbeitnehmern justiert.

Statt bestehende Städte durch neu zu bauende U-Bahn-Linien oder Kanalrohre zusätzlich zu blockieren, baut China anderswo einfach komplett neue Städte - oft nach deutschem Vorbild. 336 Städte mit mehr als 500 000 Einwohnern wird das Land 2025 zählen.

Auch die Stadt New York sucht nach Patentrezepten. Seit vier Jahrzehnten hat die Metropole erstmals wieder einen Design-Wettbewerb für Sozialwohnungen ausgerufen. London muss sich ganz neu erfinden, wenn in den nächsten 15 Jahren über 800 000 Neuankömmlinge in die historischste Megacity Europas strömen.

Mehr Dichte, höhere Häuser: Londons berühmte Skyline wird angesichts von 250 zusätzlichen Wolkenkratzern im Jahr 2025 nicht wiederzuerkennen sein.

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