Selbstverteidigung "Auf der Straße gibt es keine Regeln"

Waffe am Hals, blaue Flecke und Kratzer am Schienbein: Krav-Maga-Trainingseinheiten können weh tun. Diese Form der straßentauglichen Verteidigung, entstanden in Israel, kommt erst zum Einsatz, wenn die Optionen Weglaufen oder Deeskalation nicht mehr zur Verfügung stehen. Dann kommt es auf Reflexe und das Befolgen physikalischer Grundsätze an, auch auf das Selbstbewusstsein. Selbst in der Kampfsportnation Japan etablieren sich jetzt Kurse in Krav Maga.

 Shana Cohen bei einem Krav-Maga-Training in Tel Aviv: Bei dieser Form der Selbstverteidigung geht es darum, Gefahren früh zu erkennen, Konflikten auszuweichen und sich im Notfall zur Wehr zu setzen.

Shana Cohen bei einem Krav-Maga-Training in Tel Aviv: Bei dieser Form der Selbstverteidigung geht es darum, Gefahren früh zu erkennen, Konflikten auszuweichen und sich im Notfall zur Wehr zu setzen.

Foto: CORINNA KERN/DPA

Joggen bei Dunkelheit im Park, eine Gruppe Betrunkener auf der Straße, der Bericht über eine Messerattacke oder einen Terroranschlag: Schon die Vorstellung, selbst einmal in eine Gefahrensituation zu geraten, kann Angst bereiten. Manche Menschen lernen deshalb einen Kampfsport wie MMA (Mixed Martial Arts), Boxen, Karate oder Judo.

Doch Kämpfen im Ring und auf der Matte ist nicht das Gleiche wie eine gewaltsame Auseinandersetzung im Alltag, auf der Straße, bei einem Überfall. "Auf der Straße gibt es keine Regeln", beschreibt der Israeli Oren Mellul den Unterschied. Er lehrt eine Form der Selbstverteidigung, die nah dran ist an der Realität und die sich vom Kampfsport abgrenzt: Krav Maga. Ziel ist dabei nicht, einen Kampf zu gewinnen, sondern eine Attacke zu überleben. Um Selbstfindung, wie zuweilen etwa bei Karate, Aikido oder Taekwondo der Fall, geht es hier also nicht, sondern um die pure Selbstbehauptung.

Wer Krav Maga trainiert, lernt Gefahren früh zu erkennen, Konflikten auszuweichen und sich im Notfall zur Wehr zu setzen. Den Fans geht es also nicht um Muskelspiele oder Polizei-Ersatz. Krav Maga ist hebräisch und bedeutet "Kontaktkampf". Entwickelt wurde das System von Imi Lichtenfeld (siehe Info-Kasten). In den 1930er Jahren bildete er in Bratislava eine Art Schutztruppe, um jüdische Mitbürger gegen antisemitische Schläger zu schützen. Diese Erfahrungen ließ er später in Israel in die Weiterentwicklung des Selbstverteidigungssystems einfließen.

Die dünne Linie zwischen Verteidigung und Angriff

Es gibt Krav Maga fürs Militär, für die Polizei - und für jedermann, auch für Mitarbeiter von Sicherheitsfirmen. Personenschützer, sogenannte Bodyguards, gehören zu den regelmäßigen Kunden. Manchmal bieten Firmen Trainings für Mitarbeiter an, oder man bucht Kurse in Studios. Heute üben Männer und Frauen weltweit die Abwehrtechniken: sowohl in Israel, wo politische Gewalt und Terror sehr präsent sind, als auch in Japan, das international als eines der sichersten Länder gilt. Auch in Deutschland gibt es viele Fans. Einen Weltverband gibt es auch: "Krav Maga Global" zählt inzwischen mehr als 100.000 aktive Mitglieder. Was bewegt Menschen, Krav Maga zu lernen?

Die schlanke junge Frau ist ganz in Schwarz gekleidet. Sie ist klein, aber sehr durchtrainiert. Plötzlich packt ein gut zwei Köpfe größerer Hüne sie von hinten und hebt sie wie eine Feder hoch. Der Mann hält sie fest im Griff. Doch die 21-Jährige kann sich schnell befreien. Sie wirbelt herum und simuliert einen Tritt in seine Genitalien. Shana Cohen ist in Paris aufgewachsen und vor zwei Jahren nach Israel eingewandert.

Seitdem trainiert sie mit dem Krav-Maga-Experten Oren Mellul. Die Frau hat eine ganz spezielle Motivation, sich zur Abwehrkämpferin ausbilden zu lassen: Als Jüdin habe sie sich in Frankreich oft durch Antisemitismus bedroht gefühlt, erzählt Cohen. Sich wehren zu können, sei ihr wegen ihrer Körpergröße besonders wichtig. "Ich bin klein, deswegen muss ich mich verteidigen können", sagt die 1,54-Meter-Studentin - und lächelt.

Sie habe seit ihrer Kindheit mehrere Kampfsportarten ausprobiert. Ihre braunen Haare sind zu einem Zopf gebunden. "Für mich war es immer wichtig, mich selbst behaupten zu können, mich nicht auf andere zu verlassen." Die Mitglieder in Melluls Gruppe simulieren gefährliche Situationen im Alltag. Einige Deutsche, die für eine Weile in Israel leben, gehören ebenfalls dazu. Sie alle spielen auch das Szenario "Straßenkampf" durch. Und üben in einem Fitnessclub im Zentrum Tel Avivs mit Revolver- und Messer-Attrappen.

Lehrer Mellul stellt sich hinter Shana Cohen. Er gibt den Angreifer und hält ihr ein Messer, eine Imitation aus Gummi, an den Hals. Sie greift blitzschnell seinen Arm und dreht ihn so, dass er die Waffe fallen lassen muss. Wie das genau geht, lernt man hier. "Normalerweise kann man eine Messerattacke nicht ohne einen Kratzer überstehen", lautet die Einschätzung des 29-jährigen Trainers. "Es geht darum, am Leben zu bleiben." Er bezieht diesen Satz auf eine Welle von Messerattacken, die Palästinenser seit 2015 auf Israelis verübt haben, und auch auf bedrohliche Zwischenfälle im Nachtleben.

Shana Cohen sagt, das Training stärke ihr Selbstbewusstsein: "Ich kann in Tel Aviv nachts durch die Straßen gehen, und ich weiß, was ich tun muss, wenn mich jemand angreift", berichtet sie. "Ich musste es noch nie auf der Straße anwenden. Aber ich bin bereit, es zu tun, wenn ich muss." Trainer Mellul sagt, er sehe eine "weltweit wachsende Nachfrage nach Krav Maga".

Das System werde beliebter. "Man erwirbt schnell Fähigkeiten zur Selbstverteidigung, schon nach einer Unterrichtsstunde." Zugleich sei es für viele geeignet: "Egal, wie klein du bist, wie stark dein Angreifer ist, mit Hilfe physikalischer Grundsätze wie Hebelwirkung, dem Ausnutzen von Schwachpunkten, kann man jemanden abwehren."

Der Trainer betont, bei Krav Maga gehe es nicht darum, "dem Angreifer zu zeigen, dass du stärker bist". Es geht darum, "sicher zu deinen Lieben nach Hause zu kommen". Mitunter verlaufe dennoch nur eine dünne Linie zwischen Verteidigung und Angriff, gibt er zu. Der erste Grundsatz von Krav Maga laute: "Wenn du weglaufen kannst, lauf weg. Aber wenn du zurückschlagen musst, um dein Leben zu retten, dann schlag zurück und tue alles Nötige, um den Angreifer in die Flucht zu schlagen."

Das Training könne Angst verringern und das Selbstbewusstsein stärken - und allein damit die Wahrscheinlichkeit verringern, dass man überhaupt angegriffen werde, sagt der Trainer. "Man strahlt mehr Selbstsicherheit aus, durch Körpersprache, durch den Tonfall. Ein potenzieller Angreifer denke dann eher: "Oh, mit diesem Typ will ich mich lieber nicht anlegen."

Ortswechsel. Potsdam: Die langen Haare hat Dominik Cichos für das Training in einem Zopf gezähmt. Fast alle hier tragen T-Shirts mit dem Logo der International Krav Maga Federation (IKMF). Dominik aber ist im Fan-Shirt des FC Bayern München erschienen. "Schickeria" nennen sich die Hardcore-Anhänger des Fußball-Clubs. Zur Atmosphäre im Trainingsraum in einem alten Firmengebäude in Potsdam-Babelsberg passt das nicht: Unweit der berühmten Filmstudios ist es hier vor allem zweckmäßig.

Im hinteren Teil hängt eine Dunstabzugshaube, zurückgelassen von Vormietern. An den Wänden sieht man Tarnnetze, in deren Laschen Messer stecken. An einer Wand lehnen Sturmgewehre, auf der Fensterbank liegen Pistolen. Alles aus Gummi oder Plastik, weil sich beim Training niemand ernsthaft verletzen soll. Unter den Augen von Ausbilder Lars van Schaik absolviert der 18-Jährige sein Aufwärmprogramm. Mit einer Gruppe von gut zwei Dutzend Männern und Frauen wuselt er mit verbundenen Augen durch den Raum. Es wirkt wie ein Durcheinander, zumindest auf Uneingeweihte.

"Stopp", ruft der Trainer. Alle bleiben stehen. Wo sie die große Wanduhr vermuten, sollen die Teilnehmer mit dem Finger anzeigen. Dominik liegt fast richtig. Es geht um Orientierung, nicht ums Schwitzen: Darum, die Umgebung bewusst wahrzunehmen. Krav Maga sei schließlich kein Fitnessprogramm und kein Kampfsport, sondern vielmehr eine Art zu leben, erläutert van Schaik. "Man benutzt Krav Maga eigentlich jeden Tag" - in erster Linie zur Konfliktvermeidung. Erst wo trotz aller Umsicht kein Ausweg mehr bleibe, könne es auch heißen: Flucht nach vorn.

Überfall, Geiselnahme, Terroranschlag: So lauten die Szenarien, denen sich Dominik an diesem Samstagmorgen stellt. Es sind Einheiten, die im fernen Tel Aviv lebensnäher wirken als in Potsdam. Für Dominik macht das wenig Unterschied. Selbst in der beschaulichsten Umgebung kann mal etwas passieren. Dann kommt es auf Reflexe an. Diese schnell zu aktivieren, lässt sich trainieren. "Reiß die Hände hoch und schlag mir mit der Waffe in den Bauch!", ruft er seiner Übungspartnerin Lena (18) zu. Am Ende hält er die Waffe in der Hand. Dann tauschen sie die Rollen. "Bis jetzt musste ich Krav Maga zum Glück noch nie einsetzen", sagt er.

Sturmgewehre und Pistolen:Alles aus Plastik

Weil das beste Training nah am Leben ist, gehört der Tiefschutz, der die Geschlechtsteile vor Verletzungen bewahrt, zur Standardausstattung. Dass es ruppiger zugeht als beim Skat, ist Dominiks Schienbeinen nach dem Training anzusehen. Sie sind gerötet und angeschabt. Seine Parts, mal Angreifer, mal Abwehr, spielt er mit Theatralik - und schlägt auch derbe Töne an. "Auf den Boden, du Sack!", schreit er, als er für van Schaik den Sparringspartner macht. Die Arme sind durchgedrückt, wenn er die Plastikpistole zückt. Seine Adern zeichnen sich ab. Tauchte er so in einer Bankfiliale auf: Es würde nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

Nachdem er fast drei Stunden mit Waffenattrappen traktiert wurde, hat der junge Mann noch immer ein Lächeln auf den Lippen. Neben der Vorbereitung für den Ernstfall sei das Training für ihn ein Gegengewicht zum Alltag - etwa zu Formeln, die sich der Biochemie-Student einprägen muss. Für den 18-Jährigen ist die Selbstverteidigungstechnik ein Weg, mit Gleichgesinnten Spaß zu haben, auch um selbstbewusst(er) durchs Leben zu gehen.

Auch im fernen Tokio boomt Krav Maga. "Stell' dir vor, jemand vor dir zückt plötzlich ein Messer und will auf dich einstechen, von oben wie mit einem Eispickel", sagt Gilles Isard und schaut in die Runde. Dann bittet der Franzose einen seiner japanischen Schüler, die Rolle des Angreifers zu übernehmen. Was dann passiert, läuft schnell und mit großer Wucht ab.

Das Trainingsmesser, auch in diesem Krav-Maga-Training aus Gummi, saust auf Isard nieder. Blitzschnell blockt der Franzose den Schlag vorgebeugt mit angewinkeltem Unterarm am Handgelenk des Angreifers ab. Knochen prallt auf Knochen. Sofort schnellt Gilles Isards anderer Arm zum Schlag ins Gesicht vor. Er stoppt kurz vor dem Kinn - in realer Lage hätte er mit höchster Aggression zugeschlagen. Wenige Momente danach hat er den Japaner entwaffnet und durch Tritte, die im Ernstfall die Genitalien träfen, in die Knie gezwungen. Nun kann er entkommen. Wichtig: Die Griff- und Trittkombinationen müssen so lange geübt werden, bis sie automatisiert beherrscht werden.

Der mit einer Japanerin verheiratete 51 Jahre alte Franzose kennt sich mit Gewaltsituationen aus. Mehr als 20 Jahre arbeitete er für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Er baute Flüchtlingslager in Krisengebieten der Erde auf, darunter in Somalia zu Beginn des Bürgerkrieges Anfang der 90er Jahre und in Ruanda. Er selbst war Bedrohungen mit Macheten und Kalaschnikows ausgesetzt.

Zu Krav Maga kam Gilles Isard, der in jungen Jahren mit Kampfsport begann und den schwarzen Gürtel in Taekwondo hat, erst viel später. "Für mich ist Krav Maga das Beste für jemanden, der ein praktisches System zur Selbstverteidigung möchte", sagt der Ausbilder. Er gehört dem Weltverband Krav Maga Global (KMG) an, dessen Leiter und Chefausbilder Eyal Yanilov ist, Schüler des Krav-Maga-Gründers Imi Lichtenfeld. Gilles Isard zog in die Heimat seiner Frau und eröffnete vor gut drei Jahren die erste KMG-Schule in Japan.

Doch wozu braucht man in Japan, der Heimat traditioneller Kampfsportarten, wie Karate und Judo, Krav Maga? Außerdem gilt der Inselstaat als sehr sicher. "Warum lernen die Japaner Schwertkampf? Wir haben heute keine Samurai-Schlachten mehr. Sie wollen es lernen, weil es eine Kunst ist", sagt Isard. Krav Maga sei zwar ein praktisches System, das leicht zu lernen sei und leicht angewendet werden könne. Denn die Techniken basierten auf natürlichen Reflexen. Aber auch beim Training von Krav Maga könne man sich in Techniken perfektionieren - wie bei Kampfkünsten. Krav Maga als eine Art Kunst der Selbstverteidigung.

Doch es gibt zentralere Gründe, warum Japaner und Japanerinnen seine Studios in Tokio und Yokohama aufsuchen: Spaß, Fitness und eben der Wunsch, sich vor Gewalt zu schützen. Nicht nur auf Reisen ins Ausland. "Unter meinen Schülern gibt es viele Japanerinnen, die Aggression erlebten", erzählt Gilles Isard. Manche wurden begrapscht, andere sind Stalking-Opfer - beides sind in Japan verbreitete Probleme. Hinzu komme psychische Gewalt wie Mobbing. Krav Maga lehre, auch mit solcher Aggression umzugehen.

Mit Wirten und Gesten einen Konflikt vermeiden

"Das Erste, was wir hier lernen, ist, einen Kampf zu vermeiden", bestätigt auch der Franzose. Wenn ein bewaffneter Aggressor nur Geld wolle, sei es besser, es ihm zu geben als sein Leben zu riskieren. Selbst nicht aggressiv zu sein, bedeute jedoch nicht, darauf zu warten, bis ein Angreifer zuschlägt.

Immer wieder lässt er seine Schüler, darunter in Japan lebende Ausländer, in Rollenspielen üben, mit Worten und Gesten Konflikte zu vermeiden und zu deeskalieren. Schon nach wenigen Monaten, sagt Isard, spürten Schüler, wie sich ihr Verhalten und ihr Auftreten veränderten.

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